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Full text of "Lucinde. Ein Roman"

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INNEN 


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Textreviſion und Ei 
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Ein Roman 


von 


Friedrich Schlegel 


— 0 000 m 
Jena 2 
Bei Eugen Diederichs Ti. 
1907 


| Einleitung 


Ein verfehmtes Buͤchlein tritt hier 

nach hundert Jahren neu ans Licht; 

trotz ſeinen Gebreſten ein bedeutſames 

Denkmal einer großen Zeit und eines 
N großen Geiſtes. 

Man nehme es nicht als ein 
literariſches, vielmehr als ein menſch— 
liches Dokument hin. Denn kein 
Kunſtwerk iſt die Lueinde, ſondern ein 
Bekenntnis. Und der dieſes Bekennt— 
nis ablegt, iſt ein Kaͤmpfender wider 
ſeine Zeit und deren Vorurteile; wider 
eine Zeit, die auch heute noch lange nicht 
Vergangenheit heißt, wider Vorurteile, 
die auch unſeren Tagen entſprießen. 

Es gibt Menſchen, welche mit 
Wahrheiten, die durch ſie verkuͤndet 


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II 


werden ſollen, ſchon zur Welt ge⸗ 
kommen zu ſein ſcheinen. Sie draͤngen 
ſich nicht auf: ſtill laſſen ſie den 
Samen, der in ſie gelegt worden, auf⸗ 
gehen und ſehen der Stunde der Reife 
entgegen, da ihnen ein Gott den Weg 
zu ihren Mitmenſchen weiſen wird. 
Zu ihnen gehoͤrt der Verfaſſer der 
Lueinde nicht. Sein Bekenntnis iſt 
zugleich ein Kriegsruf. Man merkt: 
er iſt ausgezogen, um ſich im Kampfe 
zu meſſen. Seine Ruͤſtung iſt neu 
und blank, und es macht ihm Freude, 
fie in allen Strahlen der Paradorie 
renommiſtiſch ſchillern und glaͤnzen zu 
laſſen. Und in jugendlichem uͤbermut 
ſpringt er wohl auch gelegentlich von 
ſeinem Roß ab, um vor den verbluͤfften 
Augen der Philiſter mit der Goͤttin der 
Frechheit ein Menuett zu tanzen. 
Frech iſt dies Buͤchlein fuͤrwahr; 


III 


aber auch fromm. Es lebt und webt 
in ihm jene tiefe Weltfroͤmmigkeit, 
aus der die Ideen der Romantik ge⸗ 
boren wurden; jene Froͤmmigkeit, die 
den Menſchen durch Liebe erhoͤhen will, 
die durch Liebe den Weg zur Erfaſſung 
der Welt und ihrer Geheimniſſe findet. 

Die Liebe als angewandte Religion: 
dies iſt das große Thema der Lueinde. 
Durch alle Verſchleierungen einer 
ſchwerfaͤlligen Form ſchimmert es 
durch und kehrt in allen Variationen 
wieder: bald in dionyſiſchem Enthu— 
ſiasmus, bald in frivoler Maske, bald 
wieder in inbruͤnſtiger Anbetung. 

Es war Friedrich Schlegels Traum, 
der Prophet einer neuen Religion zu 
werden. Unter die Werke, die uns 
ſeine geplante Bibel erſetzen muͤſſen, 
gehoͤrt auch die Lueinde: der Bekenner 
einer neuen Ethik, der Buͤrger einer 


place 


— — 


x 


IV 


neuen Menſchheit ſpricht auch aus 
dieſem verfehmten Buͤchlein. 

Und nun moͤge es hinauswandern: 
den geiſtig Aufrechten eine Labe, ein 
Argernis den Phariſaͤern und Ver⸗ 
ſchnittenen. 


Jonas Fraͤnkel 


Prolog. 


Mit laͤchelnder Ruͤhrung uͤberſchaut 
und eröffnet Petrarca die Samm⸗ 
lung ſeiner ewigen Romanzen. Hoͤf— 
lich und ſchmeichelnd redet der kluge 
Boccaz am Eingang und am Schluß 
ſeines reichen Buchs zu allen Da— 
men. Und felbft der hohe Cervan— 
tes, auch als Greis und in der 
Agonie noch freundlich und voll 
von zartem Witz, bekleidet das bunte 
Schauſpiel der lebensvollen Werke 
mit dem koſtbaren Teppich einer Vor: 
rede, die ſelbſt ſchon ein ſchoͤnes ro— 
mantiſches Gemaͤlde iſt. 


Hebt eine herrliche Pflanze aus 
Lueinde I. A 


2 


dem fruchtbaren mütterlichen Boden, 
und es wird fich manches liebevoll 
daran haͤngen, was nur einem Kar⸗ 
gen uͤberfluͤſſig ſcheinen kann. 

Aber was ſoll mein Geiſt ſeinem 
Sohne geben, der gleich ihm ſo arm 
an Poeſie iſt als reich an Liebe? 

Nur ein Wort, ein Bild zum Ab⸗ 
ſchiede: Nicht der koͤnigliche Adler 
allein darf das Gekraͤchz der Raben 
verachten; auch der Schwan iſt ſtolz, 
und nimmt es nicht wahr. Ihn kuͤm⸗ 
mert nichts, als daß der Glanz ſei⸗ 
ner weißen Fittiche rein bleibe. Er 
ſinnt nur darauf, ſich an den Schooß 
der Leda zu ſchmiegen, ohne ihn zu 
verletzen; und alles was ſterblich iſt 
an ihm, in Geſaͤnge auszuhauchen. 


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eines Ungeſchickten. 


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Julius an Lucinde. 


— K 


Die Menſchen und was ſie wollen 
und thun, erſchienen mir, wenn ich 
mich daran erinnerte, wie aſchgraue 
Figuren ohne Bewegung: aber in 
der heiligen Einſamkeit um mich her 
war alles Licht und Farbe und ein 
friſcher warmer Hauch von Leben 
und Liebe wehte mich an und rauſchte 
und regte ſich in allen Zweigen des 


1 75 


uͤppigen Hains. Ich ſchaute und ich 
genoß alles zugleich, das kraͤftige 
Gruͤn, die weiße Bluͤthe und die 
goldne Frucht. Und ſo ſah ich auch 
mit dem Auge meines Geiſtes die 
Eine ewig und einzig Geliebte in 
vielen Geſtalten, bald als kindliches 
Maͤdchen, bald als Frau in der vol⸗ 
len Bluͤthe und Energie der Liebe 
und der Weiblichkeit, und dann als 
wuͤrdige Mutter mit dem ernſten 
Knaben im Arm. Ich athmete Fruͤh⸗ 
ling, klar ſah ich die ewige Jugend 
um mich und laͤchelnd ſagte ich: 
Wenn die Welt auch eben nicht die 
beſte oder die nuͤtzlichſte ſeyn mag, 
ſo weiß ich doch, ſie iſt die ſchoͤnſte. 
In dieſem Gefuͤhle oder Gedanken 
haͤtte mich auch nichts ſtoͤren koͤnnen, 


7 
weder allgemeine Zweifel noch eigne 
Furcht. Denn ich glaubte einen tie⸗ 
fen Blick in das Verborgne der Na- 
tur zu thun; ich fuͤhlte, daß alles 
ewig lebe und daß der Tod auch 
freundlich ſey und nur eine Taͤu⸗ 
ſchung. Doch dachte ich daran ei⸗ 
gentlich nicht ſehr, wenigſtens zum 
Gliedern und Zergliedern der Be— 
griffe war ich nicht fonderlich ge— 
ſtimmt. Aber gern und tief verlor 
ich mich in alle die Vermiſchungen 
und Verſchlingungen von Freude und 
Schmerz „aus denen die Würze des 
Lebens und die Bluͤthe der Empfin⸗ 
dung hervorgeht, die geiſtige Wolluſt 
wie die ſinnliche Seligkeit. Ein fei⸗ 
nes Feuer ſtroͤmte durch meine Adern; 
was ich träumte, war nicht etwa 


* 


8 


bloß ein Kuß, die Umſchließung dei⸗ 
ner Arme, es war nicht bloß der 
Wunſch, den quaͤlenden Stachel der 
Sehnſucht zu brechen und die ſuͤße 
Gluth in Hingebung zu kuͤhlen; nicht 
nach deinen Lippen allein ſehnte ich 
mich, oder nach deinen Augen, oder 
nach deinem Leibe: ſondern es war 
eine romantiſche Verwirrung von als 
len dieſen Dingen, ein wunderſames 
Gemiſch von den verſchiedenſten Er— 
innerungen und Sehnſuchten. Alle 
Myſterien des weiblichen und des 


maͤnnlichen Muthwillens ſchienen mich 


zu umſchweben, als mich Einſamen 
ploͤtzlich deine wahre Gegenwart und 
der Schimmer der bluͤhenden Freude 
auf deinem Geſichte vollends ent⸗ 
zuͤndete. Witz und Entzuͤcken be— 


9 


gannen nun ihren Wechſel und was 
ren der gemeinſame Puls unſers ver— 
einten Lebens; wir umarmten uns 
mit eben ſo viel Ausgelaſſenheit als 
Religion. Ich bat ſehr, du moͤch⸗ 
teſt dich doch einmal der Wuth ganz 
hingeben, und ich flehte dich an, du 
moͤchteſt unerſaͤttlich ſeyn. Dennoch 
lauſchte ich mit kuͤhler Beſonnenheit 
auf jeden leiſen Zug der Freude, da— 
mit mir auch nicht einer entſchluͤpfe 
und eine Luͤcke in der Harmonie 
bleibe. Ich genoß nicht bloß, ſon- 
dern ich fühlte und genoß auch den 
Genuß. | 
Du biſt fo außerordentlich klug, 
liebſte Lueinde, daß du wahrſchein— 
lich ſchon laͤngſt auf die Vermuthung 
gerathen biſt, dies alles ſey nur ein 


10 


ſchoͤner Traum. So iſt es leider 
auch, und ich wuͤrde untroͤſtlich 
daruͤber ſeyn, wenn ich nicht hoffen 
duͤrfte, daß wir wenigſtens einen 
Theil davon naͤchſtens realiſiren koͤnn⸗ 
ten. Das Wahre an der Sache iſt, 
daß ich vorhin am Fenſter ſtand; 
wie lange, das weiß ich nicht recht: 
denn mit den andern Regeln der 
Vernunft und der Sittlichkeit iſt auch 
die Zeitrechnung dabey ganz von 
mir vergeſſen worden. Alſo ich ſtand 
am Fenſter und ſah ins Freye; der 
Morgen verdient allerdings ſchoͤn 
genannt zu werden, die Luft iſt ſtill 
und warm genug, auch iſt das Gruͤn 
hier vor mir ganz friſch, und wie 
ſich die weite Ebne bald hebt bald 
ſenket, ſo windet ſich der ruhige, 


11 


breite ſilberhelle Strom in großen 
Schwuͤngen und Bogen, bis er und 
die Fantaſie des Liebenden, die ſich 
gleich dem Schwane auf ihm wiegte, 
in die Ferne hinziehen und ſich in 
das Unermeßliche langſam verlieren. 
Den Hain und ſein ſuͤdliches Colorit 
verdankt meine Viſion wahrſcheinlich 
dem großen Blumenhaufen hier ne— 
ben mir, unter denen ſich eine be— 
traͤchtliche Anzahl von Orangen be: 
findet. Alles uͤbrige laͤßt ſich leicht 
aus der Pſychologie erklären. Es 
war Illuſion, liebe Freundin, alles 
Illuſion, außer daß ich vorhin am 
Fenſter ſtand und nichts that, und 
daß ich jetzt hier ſitze und etwas 
thue, was auch nur wenig mehr 


12 


oder wohl gar noch etwas weniger 
als nichts thun iſt. 


So weit war an dich geſchrie— 
ben, was ich mit mir geſprochen 
hatte, als mich mitten in meinen 
zarten Gedanken und ſinnreichen Ge⸗ 
fuͤhlen uͤber den eben ſo wunderba⸗ 
ren als verwickelten dramatiſchen 
Zuſammenhang unſrer Umarmungen 
ein ungebildeter und ungefaͤlliger 
Zufall unterbrach, da ich eben im 
Begriff war, die genaue und ge⸗ 
diegne Hiſtorie unſers Leichtſinns 
und meiner Schwerfaͤlligkeit in klaren 
und wahren Perioden vor dir auf: 

1 zurollen, die von Stufe zu Stufe 
| allmaͤhlig nach natürlichen Geſetzen 


13 
fortſchreitende Aufklärung unfrer den 
verborgenen Mittelpunkt des feinften 
Daſeyns angreifenden Mißverſtaͤnd— 
niſſe zu entwickeln und die mannich— 
fachen Produkte meiner Ungeſchicklich— 
keit darzuſtellen, nebſt den Lehrjah⸗ 
ren meiner Maͤnnlichkeit; welche ich 
im Ganzen und in ihren Theilen 
nie uͤberſchauen kann, ohne vieles 
Laͤcheln, einige Wehmuth und hin— 
laͤngliche Selbſtzufriedenheit. Doch 
will ich als ein gebildeter Liebhaber 
und Schriftſteller verſuchen, den ro— 
hen Zufall zu bilden und ihn zum 
Zwecke zu geſtalten. Fuͤr mich und fuͤr 
dieſe Schrift, fuͤr meine Liebe zu ihr 
und fuͤr ihre Bildung in ſich, iſt 
aber kein Zweck zweckmaͤßiger, als 
der, daß ich gleich Anfangs das 


—— ne nme 


14 

was wir Ordnung nennen vernichte, 
weit von ihr entferne und mir das 
Recht einer reizenden Verwirrung 
deutlich zueigne und durch die That 
behaupte. Dies iſt um ſo noͤthiger, 
da der Stoff, den unſer Leben und 
Lieben meinem Geiſte und meiner 
Feder giebt, ſo unaufhaltſam pro⸗ 
greſſiv und ſo unbiegſam ſyſtematiſch 
iſt. Waͤre es nun auch die Form, 
ſo wuͤrde dieſer in ſeiner Art einzige 
Brief dadurch eine unertraͤgliche Ein⸗ 
heit und Einerleyheit erhalten und 
nicht mehr koͤnnen, was er doch 
will und ſoll: das ſchoͤnſte Chaos 
von erhabnen Harmonien und in⸗ 
tereſſanten Genuͤſſen nachbilden und 
ergaͤnzen. Ich gebrauche alſo mein 
unbezweifeltes Verwirrungsrecht und 


15 
ſetze oder ftelle hier ganz an die un— 
rechte Stelle eines von den vielen 
zerſtreuten Blaͤttern, die ich aus Sehn⸗ 
ſucht und Ungeduld, wenn ich dich 
nicht fand wo ich dich am gewiſſe— 
ften zu finden hoffte, in deinem Zim⸗ 
mer, auf unſerm Sopha, mit der 
zuletzt von dir gebrauchten Feder, 
mit den erſten den beſten Worten, 
ſo jene mir eingegeben, anfuͤllte oder 
verdarb, und die du Gute, ohne daß 
ich es wußte, ſorgſam bewahrteſt. 

Die Auswahl wird mir nicht 
ſchwer. Denn da unter den Traͤu⸗ 
mereyen, die hier ſchon den 
ewigen Lettern und dir anvertrauet 
ſind, die Erinnerung an die ſchoͤnſte 
Welt noch das gehaltvollſte iſt, und 
noch am erſten eine gewiſſe Art von 


16 


Ahnlichkeit mit den ſogenannten Ge⸗ 
danken hat: ſo nehme ich vor allen 
andern die dithyrambiſche Fantaſie 
uͤber die ſchoͤnſte Situazion. Denn 
wiſſen wir erſt ſicher, daß wir in 
der ſchoͤnſten Welt leben: ſo iſt es 
unſtreitig das naͤchſte Beduͤrfniß uns 
uͤber die ſchoͤnſte Situazion in dieſer 
ſchoͤnſten Welt durch andre oder 
durch uns ſelbſt gruͤndlich zu be⸗ 
lehren. 


Dithyrambiſche Fantaſie uͤber 
die ſchoͤnſte Situazion. 

Eine große Thraͤne faͤllt auf das 
heilige Blatt, welches ich hier ſtatt 
deiner fand. Wie treu und wie ein⸗ 
fach haſt du ihn aufgezeichnet, den 
kuͤhnen alten Gedanken zu meinem 
lieb⸗ 


17 
fiebften und geheimſten Vorhaben. 
In dir iſt er groß geworden und 
in dieſem Spiegel ſcheue ich mich 
nicht, mich ſelbſt zu bewundern und 
zu lieben. Nur hier ſehe ich mich 
ganz und harmoniſch, oder vielmehr 
die volle ganze Menſchheit in mir 
und in dir, Denn auch dein Geiſt 
ſteht beſtimmt und vollendet vor mir; 
es find nicht mehr Züge, die erſchei— 
nen und zerfließen: ſondern wie eine 
von den Geſtalten, die ewig dauern, 
blickt er mich aus hohen Augen freu: 
dig an und oͤffnet die Arme, den 
meinigen zu umſchließen. Die flüch- 
tigften und heiligſten von jenen zar⸗ 
ten Zuͤgen und Außerungen der 
Seele, die dem, welcher das hoͤchſte 


nicht kennt, allein ſchon Seligkeit 
Lucinde I. B 


18 


ſcheinen, find nur die gemeinſchaft⸗ 
liche Atmoſphaͤre unſers geiſtigen 
Athmens und Lebens. 

Die Worte ſind matt und truͤbe; 
auch wuͤrde ich in dieſem Gedraͤnge 
von Erſcheinungen nur immer das 
eine unerſchoͤpfliche Gefuͤhl unſrer 
urſpruͤnglichen Harmonie von neuem 
wiederholen muͤſſen. Eine große Zu⸗ 
kunft winkt mich eilends weiter ins 

unermeßliche hinaus, jede Idee oͤff⸗ 
net ihren Schooß und entfaltet ſich 
in unzaͤhlige neue Geburten. Die 
aͤußerſten Enden der zuͤgelloſen Luſt 
und der ſtillen Ahndung leben zu⸗ 
gleich in mir. Ich erinnere mich an 
alles, auch an die Schmerzen, und 
alle meine ehemaligen und kuͤnftigen 
Gedanken regen ſich und ſtehen 


19 
wider mich auf. In den geſchwollnen 
Adern tobt das wilde Blut, der 
Mund durſtet nach Vereinigung, und 
unter den vielen Geſtalten der Freude 
waͤhlt und wechſelt die Fantaſie und 
findet keine, in der die Begierde ſich 
endlich erfuͤllen und endlich Ruhe 
finden koͤnnte. Und dann gedenke 
ich wieder ploͤtzlich und ruͤhrend der 
dunkeln Zeit, da ich immer wartete, 
ohne zu hoffen, und heftig liebte, 
ohne daß ich es wußte; da mein 
innerſtes Weſen ſich ganz in unbe: 
ſtimmte Sehnſucht ergoß und ſie 
nur ſelten in halb unterdruͤckten Seuf⸗ 
zern aushauchte. 

Ja! ich wuͤrde es fuͤr ein Maͤhr⸗ 


chen gehalten haben, daß es ſolche 


Freude gebe und ſolche Liebe, wie 
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20 


ich nun fühle, und eine ſolche Frau, 
die mir zugleich die zaͤrtlichſte Ge⸗ 
liebte und die beſte Geſellſchaft waͤre 
und auch eine vollkommene Freun⸗ 
din. Denn in der Freundſchaft be⸗ 
ſonders ſuchte ich alles, was ich ent⸗ 
behrte und was ich in keinem weib⸗ 


lichen Weſen zu finden hoffte. In 


dir habe ich es alles gefunden und 
mehr als ich zu wuͤnſchen vermochte: 
aber du biſt auch nicht wie die an⸗ 
dern. Was Gewohnheit oder Ei⸗ 
genſinn weiblich nennen, davon 
weißt du nichts. Außer den kleinen 
Eigenheiten beſteht die Weiblichkeit 
deiner Seele bloß darin, daß Leben 
und Lieben fuͤr ſie gleich viel bedeu⸗ 
tet; du fuͤhlſt alles ganz und un⸗ 


endlich, du weißt von keinen Ab⸗ 


21 


ſonderungen, dein Weſen iſt Eins 
und untheilbar. Darum biſt du ſo 
ernſt und ſo freudig; darum nimmſt 
du alles ſo groß und ſo nachlaͤſſig, 
und darum liebſt du mich auch ganz 
und uͤberlaͤßt keinen Theil von mir 
etwa dem Staate, der Nachwelt 
oder den maͤnnlichen Freunden. Es 
gehoͤrt dir alles und wir ſind uns 
uͤberall die naͤchſten und verſtehn uns 
am beſten. Durch alle Stufen der 
Menſchheit gehſt du mit mir von 
der ausgelaſſenſten Sinnlichkeit bis 
zur geiſtigſten Geiſtigkeit und nur in 
dir ſah ich wahren Stolz und wahre 
weibliche Demuth. 

Das aͤußerſte Leiden, wenn es 
uns nur umgaͤbe, ohne uns zu tren⸗ 
nen, wuͤrde mir nichts ſcheinen als 


| 


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1 


1 
4 


22 


ein reizender Gegenſatz fuͤr den hohen 
Leichtſinn unſrer Ehe. Warum ſoll⸗ 
ten wir nicht die herbeſte Laune des 
Zufalls fuͤr ſchoͤnen Witz und aus⸗ 


gelaſſene Willkuͤhr nehmen, da wir 
unſterblich ſind wie die Liebe? Ich 
kann nicht mehr ſagen, meine Liebe 


oder deine Liebe; beyde ſind ſich 


gleich und vollkommen Eins, ſo viel 
Liebe als Gegenliebe. Es iſt Ehe, 
ewige Einheit und Verbindung un⸗ 


frer Geiſter, nicht bloß für das was 
wir dieſe oder jene Welt nennen, 


ſondern fuͤr die eine wahre, untheil⸗ 
bare, namenloſe, unendliche Welt, 


fuͤr unſer ganzes ewiges Seyn und 


Leben. Darum wuͤrde ich auch, 
wenn es mir Zeit ſchiene, eben ſo 
froh und eben ſo leicht eine Taſſe 


23 
Kirſchlorberwaſſer mit dir ausleeren, 
wie das letzte Glas Champagner, 
was wir zuſammen tranken, mit den 
Worten von mir: »So laß uns den 
»Reſt unſers Lebens austrinken.« — 
So ſprach und trank ich eilig, ehe 
der edelſte Geiſt des Weins ver— 
ſchaͤumte; und ſo, das ſage ich noch 
einmal, ſo laß uns leben und lie— 
ben. Ich weiß, auch du wuͤrdeſt 
mich nicht uͤberleben wollen, du wuͤr— 
deſt dem voreiligen Gemahle auch 
im Sarge folgen, und aus Luſt und 
Liebe in den flammenden Abgrund 
ſteigen, in den ein raſendes Geſetz 
die Indiſchen Frauen zwingt und 
die zarteſten Heiligthuͤmer der Will— 
klluͤhr durch grobe Abſicht und Befehl 
| entweiht und zerſtoͤrt. 


— 


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1 
* 
** 


15 
Dort wird dann vielleicht die 
Sehnſucht voller befriedigt. Ich bin 
oft daruͤber erſtaunt: jeder Gedan⸗ 
ke und was ſonſt gebildet in uns 
iſt, ſcheint in ſich ſelbſt vollendet, 
einzeln und untheilbar wie eine Per⸗ 
ſon; eines verdraͤngt das andre, und 
was eben ganz nah und gegenwaͤr— 
tig war, ſinkt bald in Dunkel zu⸗ 
ruͤck. Und dann giebt es doch wies 
der Augenblicke ploͤtzlicher, allgemei⸗ 
ner Klarheit, wo mehrere ſolche Gei— 
ſter der innern Welt durch wunder⸗ 
bare Vermaͤhlung voͤllig in Eins 
verſchmelzen, und manches ſchon ver— 
geſſene Stuͤck unſers Ich in neuem 
Lichte ſtrahlt und auch die Nacht 
der Zukunft mit ſeinem hellen Scheine 
oͤffnet. Wie im Kleinen ſo, glaube 


25 


ich, iſt es auch im Großen. Was 
wir ein Leben nennen, iſt fuͤr den 
ganzen ewigen innern Menſchen 
nur ein einziger Gedanke, ein un⸗ 
theilbares Gefuͤhl. Auch fuͤr ihn 
giebts ſolche Augenblicke des tiefſten 
und vollſten Bewußtſeyns, wo ihm 
alle die Leben einfallen, ſich anders 
miſchen und trennen. Wir beide 
werden noch einſt in Einem Geiſte 
anſchauen, daß wir Bluͤthen Einer 
Pflanze oder Blaͤtter Einer Blume 
ſind, und mit Laͤcheln werden wir 
dann wiſſen, daß was wir jetzt nur 
Hoffnung nennen, eigentlich Erin: 
nerung war. 

Weißt du noch, wie der erſte 
Keim dieſes Gedankens vor dir in 
meiner Seele aufſproßte und auch 


26 


gleich in der deinigen Wurzel faßte? 
— So ſchlingt die Religion der 
Liebe unſre Liebe immer inniger und 
ſtaͤrker zuſammen, wie das Kind die 
Luſt der zaͤrtlichen Eltern dem Echo 
gleich verdoppelt. 

Nichts kann uns trennen und 
gewiß wuͤrde jede Entfernung mich 
nur gewaltſamer an dich reißen. Ich 
denke mir, wie ich bey der letzten 
Umarmung im Gedraͤnge der hef— 
tigen Widerſpruͤche zugleich in Thraͤ⸗ 
nen und in Lachen ausbreche. Dann 
wuͤrde ich ſtill werden und in einer 
Art von Betaͤubung durchaus nicht 
glauben, daß ich von dir entfernt 
ſey, bis die neuen Gegenſtaͤnde um 
mich her mich wider Willen über: 
zeugten. Aber dann wuͤrde auch 


27 
meine Sehnſucht unaufhaltſam wach: 
ſen, bis ich auf ihren Fluͤgeln in 
deine Arme ſaͤnke. Laß auch die 
Worte oder die Menfchen ein Mis⸗ 
verſtaͤndniß zwiſchen uns erregen! 
Der tiefe Schmerz wuͤrde fluͤchtig 
ſeyn und ſich bald in vollkommenere 
Harmonie aufloͤſen. Ich wuͤrde ihn 
ſo wenig achten, wie die liebende 
Geliebte im Enthuſiasmus der Wol— 
luſt die kleine Verletzung achtet. 

Wie koͤnnte uns die Entfernung 
entfernen, da uns die Gegenwart 
ſelbſt gleichſam zu gegenwaͤrtig iſt. 
Wir muͤſſen ihre verzehrende Gluth 
in Scherzen lindern und kuͤhlen und 
ſo iſt uns die witzigſte unter den 
Geſtalten und Situazionen der Freude 
auch die ſchoͤnſte. Eine unter allen 


28 


ift die witzigſte und die ſchoͤnſte: 
wenn wir die Rollen vertauſchen 
und mit kindiſcher Luſt wetteifern, 
wer den andern taͤuſchender nach⸗ 
aͤffen kann, ob dir die ſchonende Hef⸗ 
tigkeit des Mannes beſſer gelingt, 
oder mir die anziehende Hingebung 
des Weibes. Aber weißt du wohl, 
daß dieſes ſuͤße Spiel fuͤr mich noch 
ganz andre Reize hat als ſeine eig⸗ 
nen? Es iſt auch nicht bloß die Wol⸗ 
luſt der Ermattung oder das Vor⸗ 
gefuͤhl der Rache. Ich ſehe hier 
eine wunderbare ſinnreich bedeu⸗ 
tende Allegorie auf die Vollendung 
des Maͤnnlichen und Weiblichen zur 
vollen ganzen Menſchheit. Es liegt 


viel darin, und was darin liegt, 


29 


ſteht gewiß nicht fo ſchnell auf wie 
ich, wenn ich dir unterliege. 


Das war die dithyrambiſche 
Fantaſie uͤber die ſchoͤnſte Situazion 
in der ſchoͤnſten Welt! Ich weiß noch 
recht gut, wie du ſie damals gefun⸗ 
den und genommen haſt. Aber ich 
glaube auch eben ſo gut zu wiſſen, 
wie du ſie hier finden und nehmen 
wirſt; hier in dieſem Buͤchelchen, von 
dem du mehr treue Geſchichte, ſchlichte 
Wahrheit und ruhigen Verſtand, ja 
ſogar Moral, die liebenswuͤrdige 
Moral der Liebe erwarteſt. »Wie 
»kann man ſchreiben wollen, was 
»kaum zu ſagen erlaubt iſt, was 
»man nur fühlen follte?e — Ich 


| 
} 


30 
antworte: Fuͤhlt man es, fo muß 
man es ſagen wollen, und was man 
ſagen will, darf man auch ſchreiben 
koͤnnen. 

Ich wollte dir erſt beweiſen und 


begruͤnden, es liege urſpruͤnglich und 


weſentlich in der Natur des Man⸗ 
nes ein gewiſſer toͤlpelhafter Enthu⸗ 
ſiasmus, der gern mit allem Zarten 
und Heiligen herausplatzt, nicht ſel⸗ 
ten uͤber ſeinen eignen treuherzigen 
Eifer ungeſchickterweiſe hinſtuͤrzt und 
mit einem Worte leicht bis zur Grob⸗ 
heit goͤttlich iſt. 

Durch dieſe Apologie waͤre ich 
zwar gerettet, aber vielleicht nur 
auf Unkoſten der Maͤnnlichkeit ſelbſt: 
denn ſo viel ihr auch im einzelnen 
von dieſer haltet, ſo habt ihr doch 


31 
immer viel und vieles wider das 
Ganze der Gattung. Ich will in— 
deſſen auf keinen Fall gemeine Sache 
mit einer ſolchen Race haben und 
vertheidige oder entſchuldige daher 
meine Freyheit und Frechheit lieber 
bloß mit dem Beyſpiele der unſchul⸗ 
digen kleinen Wilhelmine, da ſie doch 
auch eine Dame iſt, die ich uͤberdem 
auf das zaͤrtlichſte liebe. Darum 
will ich ſie auch gleich ein wenig 
charakteriſiren. 


Charakteriſtik der kleinen Wil- 
helmine. 

Betrachtet man das ſonderbare 
Kind nicht mit Ruͤckſicht auf eine 
einfeitige Theorie, ſondern wie es 
ſich ziemt, im Großen und Ganzen: 


32 
jo darf man kuͤhnlich von ihr fagen, 
und es iſt vielleicht das beſte was 
man uͤberhaupt von ihr ſagen kann: 
Sie iſt die geiſtreichſte Perſon ihrer 
Zeit oder ihres Alters. Und das iſt 
nicht wenig geſagt: denn wie ſelten 
iſt harmoniſche Ausbildung unter 
zweyjaͤhrigen Menſchen? Der ſtaͤrkſte 
unter vielen ſtarken Beweiſen fuͤr 
ihre innere Vollendung iſt ihre hei⸗ 
tere Selbſtzufriedenheit. Wenn ſie 
gegeſſen hat, pflegt ſie beide Arm⸗ 
chen auf den Tiſch ausgebreitet ih⸗ 
ren kleinen Kopf mit naͤrriſchem Ernſt 
darauf zu ſtuͤtzen, macht die Augen 
groß und wirft ſchlaue Blicke im 
Kreiſe der ganzen Familie umher. 
Dann richtet ſie ſich auf mit dem 
lebhafteſten Ausdrucke von Ironie 
und 


* 2 


33 


und lächelt über ihre eigne Schlau: 
heit und unſre Inferioritaͤt. Über: 
haupt hat ſie viel Bouffonerie und 
viel Sinn fuͤr Bouffonerie. Mache 
ich ihre Gebehrden nach, ſo macht 
fie mir gleich wieder mein Nachma⸗ 
chen nach; und ſo haben wir uns 
eine mimiſche Sprache gebildet und 
verſtaͤndigen uns in den Hierogly⸗ 
phen der We meh Kunft. Zur 
Poeſie glaube ich hat fie weit mehr 
Neigung als zur Philoſophie; ſo 
laͤßt ſie ſich auch lieber fahren und 
reiſet nur im Nothfall zu Fuß. Die 
harten uͤbelklaͤnge unſrer nordiſchen 
Mutterſprache verſchmelzen auf ihrer 
Zunge in den weichen und ſuͤßen 
Wohllaut der Italiaͤniſchen und In⸗ 


diſchen Mundart. Reime liebt ſie 
Lucinde I C 


34 

befonders, wie alles Schöne; fie 
fann oft gar nicht müde werden, 
alle ihre Lieblingsbilder, gleichſam 
eine klaſſiſche Auswahl ihrer kleinen 
Genuͤſſe, ſich ſelbſt unaufhoͤrlich nach 
einander zu ſagen und zu ſingen. 
Die Bluͤthen aller Dinge jeglicher 
Art flicht Poeſie in einen leichten 
Kranz und ſo nennt und reimt auch 
Wilhelmine Gegenden, Zeiten, Be⸗ 
gebenheiten, Perſonen, Spielwerke 
und Speiſen, alles durch einander 
in romantiſcher Verwirrung, ſo viel 
Vorte ſo viel Bilder; und das ohne 
alle Nebenbeſtimmungen und kuͤnſt⸗ 
lichen Übergänge, die am Ende doch 
nur dem Verſtande frommen und 
jeden kuͤhneren Schwung der Fan⸗ 
taſie hemmen. Fuͤr die ihrige iſt alles 


35 
in der Natur belebt und beſeelt; und 
ich erinnere mich noch oft mit Ver⸗ 
gnuͤgen daran, wie ſie in einem Al⸗ 
ter von nicht viel mehr als einem 
Jahre zum erſtenmal eine Puppe ſah 
und fuͤhlte. Ein himmliſches Laͤcheln 
bluͤhte auf ihrem kleinen Geſichte und 
fie drückte gleich einen herzlichen Kuß 
auf die gefaͤrbten Lippen von Holz. 
Gewiß! es liegt tief in der Natur 
des Menſchen, daß er alles eſſen 
will, was er liebt, und jede neue 
Erſcheinung unmittelbar zum Munde 
fuͤhrt, um ſie da wo moͤglich in ihre 
erſten Beſtandtheile zu zergliedern. 
Die geſunde Wißbegierde wuͤnſcht 
ihren Gegenſtand ganz zu faſſen, bis 
in ſein Innerſtes zu durchdringen 
und zu zerbeißen. Das Betaſten 

C2 


36 


dagegen bleibt bey der aͤußerlichen 
Oberflaͤche allein ſtehn, und alles 
Begreifen gewaͤhrt eine unvollkom⸗ 
mene nur mittelbare Erkenntniß. 
Indeſſen iſt es doch ſchon ein in⸗ 
tereſſantes Schauſpiel, wenn ein geiſt⸗ 
reiches Kind ein Ebenbild von ſich 
erblickt, es mit den Haͤnden zu be⸗ 
greifen und ſich durch dieſe erſten 
und letzten Fuͤhlhoͤrner der Vernunft 
zu orientiren ſtrebt; ſchuͤchtern ver⸗ 
kriecht und verſteckt ſich der Fremd⸗ 
ling und aͤmſig iſt die kleine Philo⸗ 
ſophin hinterdrein, den Gegenſtand 
ihrer angefangenen Unterſuchung zu 
verfolgen. — 

Aber freylich iſt Geiſt, Witz und 


Originalitaͤt bey Kindern gerade ſo 


ſelten wie bey Erwachſenen. Doch 


37 


alles dies und fo vieles andre ge: 
hört nicht hieher und wuͤrde mich 
uͤber die Graͤnzen meines Zweckes 
fuͤhren! Denn dieſe Charakteriſtik 
ſoll ja nichts darſtellen als ein Ideal, 
welches ich mir ſtets vor Augen hal⸗ 
ten will, um in dieſem kleinen Kunſt⸗ 
werke ſchoͤner und zierlicher Lebens⸗ 
weisheit nie von der zarten Linie 
des Schicklichen zu verirren, und 
dir, damit du alle die Freyheiten 
und Frechheiten, die ich mir noch zu 
nehmen denke, im voraus verzeihſt, 
oder doch von einem hoͤhern Stand⸗ 
punkte beurtheilen und wuͤrdigen 
kannſt. 

Habe ich etwa Unrecht, wenn 
ich die Sittlichkeit bey Kindern, Zart⸗ 
heit und Zierlichkeit in Gedanken 


38 
und Worten vornehmlich beym weib⸗ 
lichen Geſchlecht ſuche? — 

Und nun ſieh! dieſe liebenswuͤr⸗ 
dige Wilhelmine findet nicht ſelten 
ein unausſprechliches Vergnuͤgen da⸗ 
rin, auf dem Ruͤcken liegend mit 
den Beinchen in die Höhe zu geſti⸗ 
culiren, unbekuͤmmert um ihren Rock 
und um das Urtheil der Welt. 
Wenn das Wilhelmine thut, was 
darf ich nicht thun, da ich doch bey 
Gott! ein Mann bin, und nicht zar⸗ 
ter zu ſeyn brauche wie das zarteſte 
| weibliche Weſen? 

O beneidenswuͤrdige Freyheit von 
Vorurtheilen! Wirf auch du ſie von 
dir, liebe Freundin, alle die Reſte 
von falſcher Schaam, wie ich oft 
die fatalen Kleider von dir riß und 


39 


in fchöner Anarchie umherſtreute. 
Und ſollte dir ja dieſer kleine Roman 
meines Lebens zu wild ſcheinen: ſo 
denke dir, daß er ein Kind ſey und 
ertrage ſeinen unſchuldigen Muth: 
willen mit muͤtterlicher Langmuth 
und laß dich von ihm liebkoſen. 
Wenn du es mit der Wahrſchein— 
lichkeit und durchgaͤngigen Bedeut— 
ſamkeit einer Allegorie nicht ſo gar 
ſtrenge nehmen und dabey ſo viel 
Ungeſchicklichkeit im Erzaͤhlen erwar⸗ 
ten wollteſt, als man von den Be⸗ 
kenntniſſen eines Ungeſchickten fodern 
muß, wenn das Coſtum nicht ver⸗ 
letzt werden ſoll: ſo moͤchte ich dir 
hier einen der letzten meiner wa— 
chenden Traͤume erzaͤhlen, da er 
ein aͤhnliches Reſultat giebt wie die 


40 
Charakteriſtik der kleinen Wilhel⸗ 
mine. 


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Allegorie von der Frechheit. 

Sorglos ſtand ich in einem kunſt⸗ 
reichen Garten an einem runden Beet, 
welches mit einem Chaos der herr⸗ 
lichſten Blumen, auslaͤndiſchen und 
einlaͤndiſchen, prangte. Ich ſog den 
wuͤrzigen Duft ein und ergoͤtzte mich 
an den bunten Farben: aber ploͤtz⸗ 
lich ſprang ein haͤßliches Unthier 
mitten aus den Blumen hervor. Es 
ſchien geſchwollen von Gift, die durch⸗ 
ſichtige Haut ſpielte in alle Farben 
und man ſah die Eingeweide ſich 
winden wie Gewuͤrme. Es war 
groß genug, um Furcht einzufloͤßen; 
dabey oͤffnete es Krebsſcheeren nach 


41 
allen Seiten rund um den ganzen 
Leib; bald huͤpfte es wie ein Froſch, 
dann kroch es wieder mit ekelhafter 
Beweglichkeit auf einer unzaͤhligen 
Menge kleiner Fuͤße. Mit Entſetzen 
wandte ich mich weg: da es mich 
aber verfolgen wollte, faßte ich 
Muth, warf es mit einem kraͤftigen 
Stoß auf den Ruͤcken, und ſogleich 
ſchien es mir nichts als ein gemei⸗ 
ner Froſch. Ich erſtaunte nicht we⸗ 
nig, und noch mehr, da plotzlich 
Jemand ganz dicht hinter mir ſagte: 
»Das iſt die oͤffentliche Meinung, 
und ich bin der Witz; deine fal⸗ 
»ſchen Freunde, jene Blumen find 
»ſchon alle welk.“ — Ich ſah mich 
um und erblickte eine maͤnnliche Ge⸗ 
ſtalt mittlerer Groͤße; die großen 


42 

Formen des edlen Gefichts waren jo 
ausgearbeitet und uͤbertrieben, wie 
wir ſie oft an roͤmiſchen Bruſtbil⸗ 
dern ſehn. Ein freundliches Feuer 
ſtrahlte aus den offnen lichten Au⸗ 
gen, und zwey große Locken warfen 
und draͤngten ſich ſonderbar auf der 
kuͤhnen Stirn. »Ich werde ein al⸗ 
„tes Schauſpiel vor dir erneuern, 
»fprach er: einige Juͤnglinge am 
„Scheidewege. Ich ſelbſt habe es 
»der Muͤhe werth gehalten, ſie in 
»müffigen Stunden mit der goͤttli⸗ 
schen Fantaſie zu erzeugen. Es find 
»die Achten Romane, vier an der 
„Zahl und unſterblich wie wir.« — 
Ich ſchaute wohin er winkte, und 
ein ſchoͤner Juͤngling flog kaum be⸗ 
kleidet über die grüne ebne. Schon 


43 


war er fern und ich ſah nur noch 
eben, daß er ſich auf ein Roß 
ſchwang und davon eilte, als wollte 
er den lauen Abendwind uͤberfluͤgeln 
und ſeiner Langſamkeit ſpotten. Auf 
dem Huͤgel zeigte ſich ein Ritter in 
voller Ruͤſtung, groß und hehr von 
Geſtalt, beynah ein Rieſe: aber die 
genaue Richtigkeit ſeines Wuchſes 
und feiner Bildung nebſt der treu: 
herzigen Freundlichkeit in feinen be⸗ 
deutenden Blicken und umſtaͤndlichen 
Gebehrden gab ihm dennoch eine 
gewiſſe altvaͤteriſche Zierlichkeit. Er 
neigte ſich gegen die untergehende 
Sonne, ließ ſich langſam auf ein 
Knie nieder und ſchien mit großer 
Inbrunſt zu beten, die rechte Hand 
aufs Herz, die linke an der Stirn. 


44 

Der Juͤngling, der zuvor fo ſchnell 
war, lag nun ganz ruhig am Ab⸗ 
hange und ſonnte ſich in den letzten 
Strahlen; dann ſprang er auf, ent⸗ 
kleidete ſich, ſtuͤrzte in den Strom 
und ſpielte mit den Wellen, tauchte 
unter, kam wieder hervor und warf 
ſich von neuem in die Fluth. Fern⸗ 
ab im Dunkel des Hains ſchwebte 
etwas in Griechiſchem Gewande wie 
eine Geſtalt: aber wenn es eine iſt, 
dachte ich, ſo kann ſie kaum der 
Erde angehoͤren; ſo matt waren die 
Farben, ſo eingehuͤllt das Ganze in 
heiligen Nebel. Da ich laͤnger und 
genauer hinſah, zeigte ſich's, daß 
es auch ein Juͤngling ſey, aber von 
ganz entgegengeſetzter Art. Haupt 
und Arme lehnte die hohe Geſtalt 


45 


an eine Urne; feine ernften Blicke 
ſchienen bald ein verlohrnes Gut 
auf dem Boden zu ſuchen, bald die 
blaſſen Sterne, die ſchon zu ſchim⸗ 
mern begannen, etwas zu fragen; 
ein Seufzer oͤffnete die Lippen, um 
die ein ſanftes Laͤcheln ſchwebte. — 

Jener erſte ſinnliche Juͤngling 
war unterdeſſen der einſamen Leibes⸗ 
uͤbungen uͤberdruͤſſig geworden und 
eilte mit leichten Schritten gerade auf 
uns zu. Er war nun ganz bekleidet, 
faſt wie ein Schaͤfer, aber ſehr bunt 
und ſonderbar. Er haͤtte ſo auf 
einer Maskerade erſcheinen koͤnnen, 
auch ſpielten die Finger feiner Kin: 
ken mit den Faͤden, an denen eine 
Maske hing. Man haͤtte den fan⸗ 
taſtiſchen Knaben eben fo gut für 


\ 
\ 


46 | 
ein muthwilliges Mädchen halten 


ı mögen, das ſich aus Laune verklei⸗ 


det. Bisher ging er in gerader 
Richtung, aber ploͤtzlich wurde er 


unſicher; er ging erſt auf die eine 
Seite, dann eilte er zuruͤck nach der 
andern und lachte dabey uͤber ſich 
ſelbſt. »Der junge Menſch weiß 
» nicht, ob er ſich zur Frechheit oder 
»zur Delikateſſe halten ſoll,« ſagte 
mein Begleiter. Ich ſah zur Linken 
eine Geſellſchaft ſchoͤner Frauen und 
Maͤdchen; zur Rechten ſtand eine 
große allein, und da ich hinſehen 
wollte nach der gewaltigen Form, 
begegnete ihr Blick dem meinen ſo 
ſcharf und kuͤhn, daß ich die Augen 
niederſchlug. Mitten unter den Da⸗ 
men war ein junger Mann, den ich 


47 


fogleich für einen Bruder der an⸗ 
dern Romane erkannte. Einer von 
denen wie man ſie gegenwaͤrtig ſieht, 
aber viel gebildeter; ſeine Geſtalt 
und ſein Geſicht war nicht ſchoͤn, 
aber fein, ſehr verſtaͤndig und aͤuſ— 
ſerſt anziehend. Man haͤtte ihn eben 
ſo gut für einen Franzosen wie für 
einen Deutſchen halten koͤnnen; ſeine 
Kleidung und ſeine ganze Art war 
einfach, aber ſorgfaͤltig und völlig 
modern. Er unterhielt die Geſell⸗ 
ſchaft und ſchien ſich fuͤr alle lebhaft 
zu intereſſiren. Die Maͤdchen waren 
ſehr beweglich um die vornehmſte 
Dame und ſchwatzten viel unter 
einander. »Ich habe doch noch mehr 
»Gemuͤth wie du, liebe Sittlichkeit! 
»ſagte die eine; aber ich heiße auch 


48 
„Seele und zwar die ſchoͤne.« Die 
Sittlichkeit wurde etwas blaß und 
die Thraͤnen ſchienen ihr nahe zu 
ſeyn. »Ich war doch geſtern jo tu⸗ 
»gendhaft, ſagte fie, und mache im: 
»mer größere Fortſchritte in der An⸗ 
»ſtrengung. Ich habe genug an 
meinen eignen Vorwürfen, warum 
muß ich noch welche von dir hoͤ⸗ 
sren?« — Eine andre, die Beſchei⸗ 
denheit, war neidiſch auf die, welche 
ſich die ſchoͤne Seele nannte und 
ſprach: »Ich bin boͤſe mit dir, du 
»willft mich nur als Mittel brau⸗ 
schen.e — Die Decenz, da fie die 
arme öffentliche Meinung fo huͤlf⸗ 
los auf dem Ruͤcken liegen ſah, ver⸗ 
goß drittehalb Thraͤnen und gebehr⸗ 
dete ſich dann auf eine intereſſante 
Weiſe, 


49 

Weiſe, das Auge zu trocknen, wel: 
ches aber gar nicht mehr naß war. — 
»Wundre dich nicht uͤber dieſe Of— 
»fenheit, ſagte der Witz; fie iſt we⸗ 
»der gewöhnlich noch willkuͤhrlich. 
„Die allmaͤchtige Fantaſie hat dieſe 
»weſenloſen Schatten mit ihrem Zau— 
»berftabe berührt, damit fie ihr Sn: 
»neres offenbaren. Du wirft gleich 
noch mehr hören. Aber die Frech— 
»heit redet von freyen Stuͤcken fo.« 
»Der junge Schwaͤrmer da, ſagte 
»die Delikateſſe, ſoll mich recht amuͤ⸗ 
»firen; der wird immer ſchoͤne Verſe 
„auf mich machen. Ich werde ihn 
»in der Ferne halten wie den Ritter. 
»Der Ritter iſt freylich ſchoͤn, wenn 
ver nur nicht jo ernſthaft und feyer⸗ 
lich ausſaͤhe. Der kluͤgſte von 


Lucinde J. D 


50 

allen ift wohl der Elegant, der jetzt 
-mit der Beſcheidenheit ſpricht; ich 
glaube, er perſifflirt fie. Wenig⸗ 
»ſtens hat er über die Sittlichkeit 
»und ihr fades Geſicht viel huͤbſches 
»gefagt. Er hat doch mit mir am 
»meiften geſprochen, und koͤnnte mich 
„wohl einmal verführen, wenn ich 
mich nicht anders beſinne, oder 
„wenn keiner erſcheint, der noch mehr 
nach der Mode iſt.“ — Der Ritter 
hatte ſich der Geſellſchaft nun auch 
genaͤhert; die linke Hand ſtuͤtzte ſich 
auf den Griff des großen Schwerdtes, 
und mit der rechten bot er den An⸗ 
weſenden hoͤflichen Gruß. — »Ihr 
»ſeyd doch alle gewöhnlich und ich 
»habe Langeweile, ſagte der mo⸗ 
derne Mann, gaͤhnte und ging fort. 


51 
Ich ſah nunmehr, daß die Frauen, 
die ich beym erſten Blick fuͤr ſchoͤn 
gehalten hatte, eigentlich nur bluͤ⸗ 
hend und artig, uͤbrigens aber un⸗ 
bedeutend waren. Sah man genau 
zu, ſo fanden ſich ſogar gemeine 
Zuͤge und Spuren von Verderbt⸗ 
heit. Die Frechheit ſchien mir nun 
weniger hart, ich konnte ſie dreiſt 
anſehen und mußte es mir mit Ver⸗ 
wunderung geſtehn, daß ihre Bil 
dung groß und edel ſey. Sie ging 
haſtig auf die ſchoͤne Seele zu und 
griff ihr gerade ins Geſicht. Das 
»iſt nur eine Maske, ſagte ſie; 
»du biſt nicht die ſchoͤne Seele, ſon⸗ 
»dern hoͤchſtens die Zierlichkeit, 
>oft auch die Coquetterie.- — Dann 
wandte ſie ſich zum Witz mit den 

D 2 


52 
Worten: »Wenn du die gemacht 
» haſt, die man jetzt Romane nennt, 
»ſo haͤtteſt du deine Zeit auch beſſer 
»anwenden koͤnnen. Kaum hie und 
»da finde ich in den beſten etwas 
von der leichten Poeſie des fluͤchti⸗ 
»gen Lebens: aber wohin iſt fie ent⸗ 
„flohen, die kuͤhne Muſik des liebe⸗ 
srafenden Herzens, fie die alles mit 
»fich fortreißt, fo daß der Wildeſte 
»zärtliche Thraͤnen vergießt und die 
„ewigen Felſen ſelber tanzen? Kei⸗ 
ner iſt ſo albern und keiner ſo nuͤch⸗ 
stern, der nicht von Liebe ſchwatzt: 
»aber wer fie noch kennt, hat kein 
„Herz und keinen Glauben, fie aus⸗ 
»zufprechen.«e Der Witz lachte, der 
himmliſche Juͤngling winkte Beyfall 
aus der Ferne, und ſie fuhr fort: 


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53 


»Wenn die, welche unvermögend am 
»Geiſt find, Kinder mit ihm zeugen 
»wollen; wenn die, welche es gar 
nicht verſtehn, zu leben wagen: das 
sift hoͤchſt unanſtaͤndig, denn es iſt 
»hoͤchſt unnatuͤrlich und hoͤchſt un⸗ 
»ſchicklich. Aber daß der Wein 
» ſchaͤumt und der Blitz zuͤndet, iſt 
»ganz richtig und ganz ſchicklich.« — 
Der leichtfertige Roman hatte nun 
gewaͤhlt; er war bey dieſen Worten 
ſchon um die Frechheit und ſchien 
ihr ganz ergeben. Sie eilte Arm 
in Arm mit ihm davon und ſagte 
nur im Vorbeygehn zu dem Ritter: 
»Wir ſehn uns wieder.“ — „Das 
„waren nur aͤußerliche Erſcheinungen, 
»ſprach mein Beſchuͤtzer, und du wirſt 
»gleich das Innere in dir ſchauen. 


54 

sübrigens bin ich eine wahre Perſon 
und der wahre Witz; das ſchwoͤre 
» ich dir bey mir ſelber, ohne den Arm 
»in die Unendlichkeit auszuſtrecken.« 
Alles verſchwand nun, und auch der 
Witz wuchs und dehnte ſich, bis er 
nicht mehr war. Nicht mehr vor 
und außer mir, wohl aber in mir 
glaubte ich ihn wieder zu finden; 
ein Stuͤck meines Selbſt und doch 
verſchieden von mir, in ſich leben⸗ 
dig und ſelbſtſtaͤndig. Ein neuer 
Sinn ſchien mir aufgethan; ich ent⸗ 
deckte in mir eine reine Maſſe von 
mildem Licht. Ich kehrte in mich 
ſelbſt zuruͤck und in den neuen Sinn, 
deſſen Wunder ich ſchaute. Er ſah 
ſo klar und beſtimmt, wie ein gei⸗ 
ſtiges nach Innen gerichtetes Auge: 


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55 


dabey waren aber ſeine Wahrneh— 
mungen innig und leiſe wie die des 
Gehoͤrs, und ſo unmittelbar wie die 
des Gefuͤhls. Ich erkannte bald die 
Scene der aͤußern Welt wieder, aber 
reiner und verklaͤrt, oben den blauen 
Mantel des Himmels, unten den 
gruͤnen Teppich der reichen Erde, 
die bald von froͤhlichen Geſtalten 
wimmelte. Denn was ich nur im 
Innerſten wuͤnſchte, lebte und draͤngte 
ſich gleich hier, ehe ich ſelbſt den 
Wunſch noch deutlich gedacht hatte. 
Und ſo ſah ich denn bald bekannte 
und unbekannte liebe Geſtalten in 
wunderlichen Masken, wie ein großes 
Carneval der Luſt und Liebe. Innre 
Saturnalien, an ſeltſamer Mannich: 
faltigkeit und Zuͤgelloſigkeit der 


an 


56 


großen Vorwelt nicht unwuͤrdig. 
Aber nicht lange ſchwaͤrmte das gei⸗ 
ſtige Bacchanal durch einander, ſo 
zerriß dieſe ganze innre Welt wie 
durch einen elektriſchen Schlag und 
ich vernahm ich weiß nicht wie und 
woher die gefluͤgelten Worte: »Ver⸗ 
»nichten und Schaffen, Eins und 
Alles; und jo ſchwebe der ewige 
»Geiſt ewig auf dem ewigen Welt⸗ 
»ſtrome der Zeit und des Lebens 
»und nehme jede kuͤhnere Welle wahr, 
»ehe fie zerfließt.« — Furchtbar ſchoͤn 
und ſehr fremd toͤnte dieſe Stimme 
der Fantaſie, aber milder und mehr 
wie an mich gerichtet die folgenden 
Worte: »Die Zeit iſt da, das innre 
»Mefen der Gottheit kann offenbart 
»und dargeſtellt werden, alle My— 


0 


57 
»fterien dürfen fich enthuͤllen und die 
»Furcht ſoll aufhören. Weihe dich 


»ſelbſt ein und verkuͤndige es, daß 
»die Natur allein ehrwuͤrdig und 


»die Geſundheit allein liebenswuͤrdig 
»iſt.« — Bey den geheimnißvollen 


Worten, die Zeit iſt da, fiel wie 


eine Flocke von himmliſchem Feuer 
in meine Seele. Es brannte und 
zehrte in meinem Mark; es draͤngte 
und ſtuͤrmte ſich zu aͤußern. Ich 
griff nach Waffen, um mich in das 
Kriegsgetuͤmmel der Leidenſchaften, 
die mit Vorurtheilen wie mit Waf⸗ 
fen wuͤthen, zu ſtuͤrzen und fuͤr die 
Liebe und die Wahrheit zu kaͤmpfen: 
aber es waren keine Waffen da. 
Ich oͤffnete den Mund, um ſie im 
Geſang zu verkuͤndigen, und ich 


58 


dachte, alle Weſen müßten ihn ver: 
nehmen und die ganze Welt ſollte 
harmoniſch wiederklingen: aber ich 
beſann mich, daß meine Lippen die 
Kunſt nicht gelernt haͤtten, die Ge⸗ 
ſaͤnge des Geiſtes nachzubilden. — 
»Du mußt das unſterbliche Feuer 
nicht rein und roh mittheilen wol⸗ 
»len,« ſprach die bekannte Stimme 
meines freundlichen Begleiters. ⸗Bil⸗ 
» de, erfinde, verwandle und erhalte 
»die Welt und ihre ewigen Geſtalten 
sim ſteten Wechſel neuer Trennun⸗ 
sgen und Vermaͤhlungen. Verhuͤlle 
und binde den Geiſt im Buchſta⸗ 
»ben. Der aͤchte Buchſtabe iſt all⸗ 
»mächtig und der eigentliche Zauber⸗ 
»ftab. Er iſt es, mit dem die un⸗ 
»widerſtehliche Willkuͤhr der hohen 


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59 
»Zauberin Fantaſie das erhabene 
»Chaos der vollen Natur berührt 
»und das unendliche Wort ans Licht 
„ruft, welches ein Ebenbild und 


Spiegel des göttlichen Geiſtes iſt, 
sund welches die Sterblichen Uni— 


»verſum nennen. 


Wie die weibliche Kleidung vor 
der maͤnnlichen, ſo hat auch der 
weibliche Geiſt vor dem maͤnnlichen 
den Vorzug, daß man ſich da durch 
eine einzige kuͤhne Combination uͤber 
alle Vorurtheile der Cultur und bür- 
gerlichen Conventionen wegſetzen und 
mit einemmale mitten im Stande 
der Unſchuld und im Schooß der 
Natur befinden kann. 


60 


An wen follte alſo wohl die Rhe⸗ 
torik der Liebe ihre Apologie der 
Natur und der Unſchuld richten als 
an alle Frauen, in deren zarten 
Herzen das heilige Feuer der goͤtt⸗ 
lichen Wolluſt tief verſchloſſen ruht, 
und nie ganz verloͤſchen kann, wenn 
es auch noch ſo ſehr verwahrloſt und 
verunreinigt wird? Naͤchſtdem frey⸗ 
lich auch an die Juͤnglinge, und an 
die Männer, die noch Juͤnglinge ge 
blieben ſind. Bey dieſen iſt aber 
ſchon ein großer Unterſchied zu ma⸗ 
chen. Man koͤnnte alle Juͤnglinge 
eintheilen in ſolche, die das haben, 
was Diderot die Empfindung des 
Fleiſches nennt, und in ſolche, die es 
nicht haben. Eine ſeltne Gabe! 
Viele Maler von Talent und Ein⸗ 


61 


ficht ſtreben ihr ganzes Leben ums 
ſonſt danach, und viele Virtuoſen 
der Maͤnnlichkeit vollenden ihre Lauf— 
bahn, ohne eine Ahndung davon 
gehabt zu haben. Auf dem gemei: 
nen Wege kommt man nicht dahin. 
Ein Libertin mag verſtehen mit ei: 
ner Art von Geſchmack den Guͤrtel 
zu loͤſen. Aber jenen hoͤhern Kunſt⸗ 


ſinn der Wolluſt, durch den die 
maͤnnliche Kraft erſt zur Schoͤnheit \ 


gebildet wird, lehrt nur die Liebe 
allein den Juͤngling. Es iſt Elek⸗ 
trizitaͤt des Gefuͤhls, dabey aber im 
Innern ein ſtilles leiſes Lauſchen, 
im Außern eine gewiſſe klare Durch⸗ 
ſichtigkeit, wie in den hellen Stellen 
der Malerey, die ein reizbares Auge 
ſo deutlich fuͤhlt. Es iſt eine wun⸗ 


| 


62 


derbare Mifchung und Harmonie 
aller Sinne: ſo giebt es auch in der 
Muſik ganz kunſtloſe, reine, tiefe 
Accente, die das Ohr nicht zu ho: 
ren, ſondern wirklich zu trinken 
ſcheint, wenn das Gemuͤth nach Liebe 
durſtet. Übrigens aber moͤchte ſich 
die Empfindung des Fleiſches nicht 
weiter definiren laſſen. Das iſt auch 
unnoͤthig. Genug ſie iſt für Juͤng⸗ 


| linge der erſte Grad der Liebes kunſt 


und eine angeborne Gabe der Frauen, 
durch deren Gunſt und Huld allein 
ſie jenen mitgetheilt und angebildet 
werden kann. Mit den Ungluͤckli⸗ 
chen, die ſie nicht kennen, muß man 
nicht von Liebe reden: denn von 
Natur iſt in dem Manne zwar ein 


Beduͤrfniß aber kein Vorgefuͤhl der⸗ 


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DEE ZELTE a EEE —— 


63 


ſelben. Der zweyte Grad hat ſchon 
etwas Myſtiſches, und koͤnnte leicht 


vernunftwidrig ſcheinen wie jedes 


Ideal. Ein Mann, der das innere 


Verlangen ſeiner Geliebten nicht ganz 


füllen und befriedigen kann, verſteht 
es gar nicht zu ſeyn, was er doch 


iſt und ſeyn ſoll. Er iſt eigentlich 
undbrmdgend⸗ Ind kann keine guͤl⸗ 
tige Ehe ſchließen. Zwar verſchwin⸗ 
det auch die hoͤchſte endliche Groͤße 
vor dem Unendlichen, und durch 
bloße Kraft laͤßt ſich alſo das Pro— 
blem auch bey dem beſten Willen 
nicht aufloͤſen. Aber wer Fantaſie 
hat, kann auch Fantaſie mittheilen, 
und wo die iſt, entbehren die Lie⸗ 
benden gern, um zu verſchwenden - 
ihr Weg geht nach Innen, ihr Ziel 


— | 
> 


64 
ift intenſive Unendlichkeit, Unzertrenn⸗ 
lichkeit ohne Zahl und Maaß; und 
eigentlich brauchen fie nie zu ent⸗ 
behren, weil jener Zauber alles zu 
erſetzen vermag. Aber ſtill von die⸗ 
ſen Geheimniſſen! Der dritte und 
hoͤchſte Grad iſt das bleibende Ge⸗ 
fuͤhl von harmoniſcher Waͤrme. Wel⸗ 
cher Juͤngling das hat, der liebt 
nicht mehr bloß wie ein Mann, 
ſondern zugleich auch wie ein Weib. 
In ihm iſt die Menſchheit vollendet, 
und er hat den Gipfel des Lebens 
erſtiegen. Denn gewiß iſt es, daß 
Maͤnner von Natur bloß heiß oder 
kalt ſind: zur Waͤrme muͤſſen ſie erſt 
gebildet werden. Aber die Frauen 
ſind von Natur ſinnlich und geiſtig 
warm und haben Sinn fuͤr Waͤrme 
jeder Art. Wenn 


65 


Wenn dieſes tolle kleine Buch 
einmal gefunden, vielleicht gedruckt, 
und gar geleſen wird, ſo muß es 
auf alle gluͤcklichen Juͤnglinge un⸗ 
gefaͤhr den gleichen Eindruck machen. 
Nur verſchieden nach den verſchiede⸗ 
nen Stufen ihrer Ausbildung. De: 
nen vom erſten Grad wird es die 
Empfindung des Fleiſches erregen; 
die vom zweyten kann es ganz be⸗ 
friedigen; und denen vom dritten 
ſoll bloß warm dabey werden. 

Ganz anders wuͤrde es mit den 
Frauen ſeyn. Unter ihnen giebt es 
keine Ungeweihten; denn jede hat 
die Liebe ſchon ganz in ſich, von 
deren unerſchoͤpflichem Weſen wir 
Juͤnglinge nur immer ein wenig 


mehr lernen und begreifen. Schon 
Lueinde I. E 


eee 


66 


entfaltet, oder noch im Keime, das 
iſt gleich viel. Auch das Maͤdchen 
weiß in ihrer naiven Unwiſſenheit 
doch ſchon alles, noch ehe der Blitz 
der Liebe in ihrem zarten Schooß 
gezuͤndet und die verſchloßne Knoſpe 
zum vollen Blumenkelch der Luſt 
entfaltet hat. Und wenn eine Knoſpe 
Gefühl hätte, würde nicht das Vorge⸗ 
fühl der Blume deutlicher in ihr ſeyn, 
als das Bewußtſeyn ihrer ſelbſt? — 

Darum giebt es in der weibli⸗ 
chen Liebe keine Grade und Stufen 
der Bildung, überhaupt nichts all⸗ 
gemeines; ſondern ſo viel Indivi⸗ 
duen, ſo viel eigenthuͤmliche Arten. 
Kein Linné kann uns alle dieſe ſchoͤ⸗ 
nen Gewaͤchſe und Pflanzen im 
großen Garten des Lebens klaſſifiziren 


67 


und verderben; und nur der einge⸗ 
weihte Liebling der Goͤtter verſteht 
ihre wunderbare Botanik; die goͤtt⸗ 
liche Kunſt, ihre verhuͤllten Kraͤfte 
und Schönheiten zu errathen und 
zu erkennen, wann die Zeit ihrer 
Bluͤthe ſey und welches Erdreich 
ſie beduͤrfen. Da wo der Anfang 
der Welt oder doch der Anfang 
der Menſchen iſt, da iſt auch der 
eigentliche Mittelpunkt der Origina⸗ 
lität, und kein Weiſer hat die Weib⸗ 
lichkeit ergruͤndet. 

Eines zwar ſcheint die Frauen 
in zwey große Klaſſen zu theilen. 
Das naͤmlich, ob ſie die Sinne ach⸗ 
ten und ehren, die Natur, ſich ſelbſt 
und die Maͤnnlichkeit: oder ob ſie 
dieſe wahre innere Unſchuld verloren 
E 2 


68 

HEBT 3 RE R . 
haben, und jeden Genuß mit Reue 
erkaufen, bis zur bittern Gefuͤhllo⸗ 
ſigkeit gegen innere Misbilligung. 
Das iſt ja die Geſchichte fo vieler. 
Erſt ſcheuen ſie die Maͤnner, dann 
werden ſie Unwuͤrdigen hingegeben, 
welche ſie bald haſſen oder betruͤgen, 
bis ſie ſich ſelbſt und die weibliche 
| Beſtimmung verachten. Ihre kleine 
Erfahrung halten ſie fuͤr allgemein 
und alles andre fuͤr laͤcherlich; der 
enge Kreis von Rohheit und Gemein⸗ 
heit, in dem fie ſich beftändig drehen, 
iſt für fie die ganze Welt, und es 
faͤllt ihnen gar nicht ein, daß es auch 
noch andre Welten geben koͤnne. Fuͤr 
dieſe ſind die Maͤnner nicht Men⸗ 
ſchen, ſondern bloß Maͤnner, eine 
eigne Gattung, die fatal aber doch 


69 
gegen die Langeweile unentbehrlich 
iſt. Sie ſelbſt ſind denn auch eine 
bloße Sorte, eine wie die andre, 
ohne Originalitaͤt und ohne Liebe. 

Aber ſind ſie unheilbar weil ſie 
ungeheilt ſind? Mir iſt es ſo ein⸗ 
leuchtend und klar, daß nichts un⸗ 
natuͤrlicher fuͤr eine Frau ſey als 
Pruͤderie (ein Laſter, an das ich nie 
ohne eine gewiſſe innerliche Wuth 
denken kann) und nichts beſchwer⸗ 
licher als Unngtuͤrlichkeit, daß ich 
keine Graͤnze beſtimmen, und keine 
fuͤr unheilbar halten moͤchte. Ich 
glaube, ihre U natur kann nie zu⸗ 
verlaͤßig werden, wenn ſie auch noch 
jo viel Leichtigkeit und Unbefangen⸗ 
heit darin erlangt haben, bis zu 
einem Schein von Conſequenz und 


70 
Charakter. Es bleibt doch nur 
Schein; das Feuer der Liebe iſt 
durchaus unverloͤſchlich, und noch 
unter der tiefſten Aſche gluͤhen 
Funken. | 

Dieſe heilige Funken zu wecken, 
von der Aſche der Vorurtheile zu 
reinigen, und wo die Flamme ſchon 
lauter brennt, ſie mit beſcheidenem 
Opfer zu naͤhren; das waͤre das 
hoͤchſte Ziel meines maͤnnlichen Ehr⸗ 
geizes. Laß mich's bekennen, ich 
liebe nicht dich allein, ich liebe die 
Weiblichkeit ſelbſt. Ich liebe ſie 
nicht bloß, ich bete ſie an, weil ich 
die Menſchheit anbete, und weil die 
Blume der Gipfel der Pflanze und 
ihrer natuͤrlichen Schoͤnheit und Bil⸗ 
dung iſt. 


71 

Es iſt die aͤlteſte kindlichſte ein⸗ 
fachſte Religion, zu der ich zuruͤck⸗ 
gekehrt bin. Ich verehre als vor⸗ 
zuͤglichſtes Sinübild der Gottheit das 
Feuer; und wo giebts ein ſchoͤneres, 
als das was die Natur tief in die 
weiche Bruſt der Frauen verſchloß? 
— Weihe du mich zum Prieſter, nicht 
um es muͤßig zu beſchauen, ſondern 
um es zu befreyen, zu wecken, und 
zu reinigen: wo es rein iſt, erhaͤlt 
es ſich ſelber, ohne Wache und ohne 
Veſtalinnen. 

Ich ſchreibe und ſchwaͤrme, wie 
du ſiehſt, nicht ohne Salbung; aber 
es geſchieht auch nicht ohne Beruf, 
und zwar goͤttlichen Beruf. Was 
darf ſich der nicht zutrauen, zu dem 
der Witz ſelbſt durch eine Stimme 


72 Ä 

vom geöffneten Himmel herab fprach: 
»Du bift mein lieber Sohn, an dem 
»ich Wohlgefallen habe.« — Und 


warum ſoll ich nicht aus eigner 


Vollmacht und Willkuͤhr von mir 
ſagen: »Ich bin des Witzes lieber 
»Sohn;« wie mancher Edle, der 
auf Abentheuer durch's Leben wan⸗ 


derte, von ſich ſagte: »Ich bin des 
»Gluͤckes lieber Sohn.“ — 


Übrigens wollte ich eigentlich 
davon reden, welchen Eindruck die⸗ 
ſer fantaſtiſche Roman auf die Frauen 
machen wuͤrde, wenn der Zufall 
oder die Willkuͤhr ihn faͤnde und 
oͤffentlich aufſtellte. Es waͤre auch 
in der That unſchicklich, wenn ich 
dir nicht in aller Kuͤrze mit einigen 
kleinen Beweiſen von Weiſſagung 


8 — = 3 PPC er 


73 
und Divination aufwartete, um mein 
Recht auf die en dar⸗ 
zuthun. 

Verſtehen wuͤrden mich alle, keine 
ſo mißverſtehen und ſo mißbrauchen 
wie die uneingeweihten Juͤnglinge. 
Viele wuͤrden mich beſſer verſtehen 
als ich ſelbſt, aber nur Eine ganz, 
und die biſt du. Alle uͤbrigen hoffe 
ich wechſelsweiſe anzuziehen und 
abzuſtoßen, oft zu verletzen und 
eben ſo oft zu verſoͤhnen. Bey je⸗ 
der gebildeten wird der Eindruck 
ganz verſchieden, und ganz eigen 
ſeyn; ſo eigen und ſo verſchieden 
wie ihre eigenthuͤmliche Art zu ſeyn 
und zu lieben. Clementinen wird 
das Ganze bloß intereſſiren als eine 
Sonderbarkeit, hinter der aber doch 


74 
wohl etwas ſeyn koͤnnte; einiges in⸗ 
deſſen wird ſie richtig finden. Man 
nennt ſie hart und heftig, und doch 
glaube ich an ihre Liebenswuͤrdig⸗ 
keit. Ihre Heftigkeit verſoͤhnt mich 
mit ihrer Haͤrte, obgleich beyde ſich 
dem aͤußern Anſchein nach vermeh⸗ 
ren. Waͤre die Haͤrte allein, ſo 
muͤßte ſie Kaͤlte und Mangel an 
Herz ſcheinen; die Heftigkeit zeigt, 
daß heiliges Feuer da iſt, was durch⸗ 
brechen will. Du kannſt leicht den⸗ 
ken, wie ſie einem mitſpielen wuͤrde, 
den ſie im Ernſt liebte. Die weiche 
und verletzbare Roſamunde wird ſich 
eben ſo oft anneigen als wegwen⸗ 
den, bis »ſcheue Zartheit kuͤhner 
wird und nichts als Unſchuld ſieht 
»in inn’ger Liebe Thun. Juliane 


#3 


hat eben fo viel Poeſie als Liebe, 
eben ſo viel Enthuſiasmus als Witz: 
aber beydes iſt zu iſolirt in ihr, da⸗ 
rum wird ſie bisweilen uͤber das 
kuͤhne Chaos weiblich erſchrecken, und 
dem Ganzen etwas mehr Poeſie und 
etwas weniger Liebe wuͤnſchen. 
Ich koͤnnte ſo noch lange fort⸗ 
fahren, denn ich ſtrebe aus allen 
Kraͤften nach Menſchenkenntniß, und 
ich weiß meine Einſamkeit oft nicht 
wuͤrdiger anzuwenden, als indem ich 
daruͤber reflektire, wie dieſe oder 
jene intereſſante Frau in dieſem oder 
jenem intereſſanten Verhaͤltniſſe wohl 
ſeyn und ſich verhalten duͤrfte. Doch 
genug fuͤr jetzt, ſonſt moͤchte es dir 
zu viel werden, und die Vielſeitig⸗ 
keit deinem Propheten uͤbel gerathen. 


76 

Denke nur nicht fo arg von mir 
und glaube, daß ich nicht allein für 
dich ſondern für die Mitwelt dichte. 
Glaube mir, es iſt mir bloß um 
die Objektivität meiner Liebe zu 
thun. Dieſe Objektivitaͤt und jede 
Anlage zu ihr beſtaͤtigt und bildet 
ja eben die Magie der Schrift, und 
weil es mir verſagt iſt, meine Flamme 
in Geſaͤnge auszuhauchen, muß ich 
den ſtillen Zuͤgen das ſchoͤne Ge⸗ 
heimniß vertrauen. Dabey denke 
ich aber eben ſo wenig an die ganze 
Mitwelt, als an die Nachwelt. 
Und muß es ja eine Welt ſeyn, an 
die ich denken ſoll: ſo ſey es am 
liebſten die Vorwelt. Die Liebe 
ſelbſt ſey ewig neu und ewig jung, 
aber ihre Sprache ſey frey und kuͤhn, 


7 
nach alter klaſſiſcher Sitte, nicht zuͤch— 
tiger wie die roͤmiſche Elegie und 
die Edelſten der groͤßten Nazion, 
und nicht vernuͤnftiger wie der große 
Plato und die heilige arte 

Idylle uͤber den Mäſſiggang. A 
Sieh ich lernte von ſelbſt, und 
»ein Gott hat mancherley Weiſen 
»mir in die Seele gepflanzt.“ So 
darf ich kuͤhnlich ſagen, wenn nicht 
von der froͤhlichen Wiſſenſchaft der 
Poeſie die Rede iſt, ſondern von 
der gottähnlichen Kunſt der Faul⸗ 
heit. Mit wem ſollte ich alſo lie⸗ 
ber uͤber den Muͤſſiggang denken 
und reden als mit mir ſelbſt? Und 
ſo ſprach ich denn auch in jener un⸗ 
ſterblichen Stunde, da mir der Genius 


78 


eingab, das hohe Evangelium der 
aͤchten Luſt und Liebe zu verkuͤndi⸗ 
gen, zu mir ſelbſt: »O Muͤſſig⸗ 
gang, Muͤſſiggang! du biſt die Le⸗ 
»bensluft der Unſchuld und der Be— 
»geiſterung; dich athmen die See⸗ 
„ligen, und ſeelig ift wer dich hat 
und hegt, du heiliges Kleinod! ein⸗ 
»ziges Fragment von Gottaͤhnlich⸗ 
»keit, das uns noch aus dem Pa⸗ 
»radieſe blieb.“ Ich ſaß, da ich jo 
in mir ſprach, wie ein nachdenkli⸗ 
ches Maͤdchen in einer gedankenloſen 
Romanze am Bach, ſah den fliehen⸗ 
den Wellen nach. Aber die Wellen 
flohen und floßen ſo gelaſſen, ruhig 
und ſentimental, als ſollte ſich ein 
Nareiſſus in der klaren Fläche be⸗ 
ſpiegeln und ſich in ſchoͤnen 


79 


Egoiſmus berauſchen. Auch mich 
haͤtte ſie locken koͤnnen, mich immer 
tiefer in die innere Perſpektive mei⸗ 
nes Geiſtes zu verlieren, wenn nicht 
meine Natur ſo uneigennuͤtzig und 
ſo praktiſch waͤre, daß ſogar meine 
Spekulazion unaufhoͤrlich nur um 
das allgemeine Gute beſorgt iſt. 
Daher dachte ich auch, ungeachtet 
mein Gemuͤth in ſeiner Behaglichkeit 
fo matt war, wie die von der ge⸗ 
waltigen Hitze aufgeloͤſten und hin⸗ 
geſunknen Glieder, ernſtlich uͤber die 
Moͤglichkeit einer dauernden Umar⸗ 
mung nach. Ich ſann auf Mittel, 
das Beyſammenſeyn zu verlaͤngern, 
und kuͤnftig lieber alle kindlich ruͤh⸗ 
renden Elegien über plötzliche Tren⸗ 
nung zu verbr hüten, als uns wie bis⸗ 


80 


her an dem Komiſchen einer ſolchen 
Fuͤgung des Schickſals zu ergoͤtzen, 
weil es nun doch einmal geſchehen 
und unabaͤnderlich ſey. Erſt nach⸗ 
dem die Kraft der angeſpannten 
Vernunft an der Unerreichbarkeit des 
Ideals brach und erſchlaffte, uͤber⸗ 
ließ ich mich dem Strome der Ge⸗ 
danken, und hoͤrte willig alle die 
bunten Maͤhrchen an, mit denen 
Begierde und Einbildung, unwider⸗ 
ſtehliche Sirenen in meiner eignen 
Bruſt, meine Sinne bezauberten. Es 
fiel mir nicht ein, das verfuͤhreriſche 
Gaukelſpiel unedel zu kritiſiren, un⸗ 
geachtet ich wohl wußte, daß das 
meiſte nur ſchoͤne Luͤge ſey. Die 
zarte Muſik der Fantaſie ſchien die 
Luͤcken der Sehnſucht auszufuͤllen. 

Dank⸗ 


81 


Dankbar nahm ich das wahr und 
beſchloß, was das hohe Gluͤck mir 
diesmal gegeben, auch kuͤnftig durch 
eigne Erfindſamkeit fuͤr uns beide 
zu wiederholen, und dir dieſes Ge⸗ 
dicht der Wahrheit zu beginnen. So 
erzeugte ſich der erſte Keim zu dem 
wunderſamen Gewaͤchs von Willkuͤhr 
und Liebe. Und frey wie es ent: 
ſproſſen iſt, dacht' ich, ſoll es auch 
uͤppig wachſen und verwildern, und 
nie will ich aus niedriger Ordnungs⸗ 
liebe und Sparſamkeit die lebendige 
Fülle von überflüffigen Blättern und 
Ranken beſchneiden. N 

Gleich einem Weiſen des Orients 
war ich ganz verſunken in ein hei⸗ 
liges Hinbruͤten und ruhiges An⸗ 


ſchauen der ewigen Subſtanzen, vor⸗ 
Lucinde I. F 


82 


züglich der deinigen und der meini⸗ 
gen. Groͤße in Ruhe, ſagen die 
Meiſter, ſey der hoͤchſte Gegenſtand 
der bildenden Kunſt; und ohne es 
deutlich zu wollen, oder mich un⸗ 
wuͤrdig zu bemuͤhen, bildete und 
dichtete ich auch unſre ewigen Sub⸗ 
ſtanzen in dieſem wuͤrdigen Styl. 
Ich erinnerte mich, und ich ſah uns, 
wie gelinder Schlaf die Umarmten 
mitten in der Umarmung umfing. 
Dann und wann oͤffnete einer die 
Augen, laͤchelte uͤber den ſuͤßen 
Schlaf des andern und wurde wach 
genug, um ein ſcherzendes Wort, 
eine Liebkoſung zu beginnen: aber 
noch ehe der angefangene Muth⸗ 
wille geendigt war, ſanken wir beide 
feſt verſchlungen in den ſeeligen 


83 


Schooß einer halbbeſonnenen Selbſt⸗ 
vergeſſenheit zuruͤck. 

Mit dem aͤußerſten Unwillen 
dachte ich nun an die ſchlechten 
Menſchen, welche den Schlaf vom 
Leben ſubtrahiren wollen. Sie ha⸗ 
ben wahrſcheinlich nie geſchlafen, und 
auch nie gelebt. Warum ſind denn 
die Goͤtter Goͤtter, als weil ſie mit 
Bewußtſeyn und Abſicht nichts thun, 
weil ſie das verſtehen und Meiſter 
darin ſind? Und wie ſtreben die 
Dichter, die Weiſen und Heiligen 
auch darin den Goͤttern aͤhnlich zu 
werden! Wie wetteifern ſie im Lobe 
der Einſamkeit, der Muße, und ei⸗ 
ner liberalen Sorgloſigkeit und Un⸗ 
thaͤtigkeit! Und mit großem Recht: 
denn alles Gute und Schoͤne iſt 

F 2 


84 

ſchon da und erhält ſich durch feine 
eigne Kraft. Was ſoll alſo das un⸗ 
bedingte Streben und Fortſchreiten 
ohne Stillſtand und Mittelpunkt? 
Kann dieſer Sturm und Drang der 
unendlichen Pflanze der Menſchheit, 
die im Stillen von ſelbſt waͤchſt und 
ſich bildet, naͤhrenden Saft oder 
ſchoͤne Geſtaltung geben? Nichts iſt 
es, dieſes leere unpubige, Treiben, 
als eine nordiſche Unart und wirkt 
auch nichts als Langeweile, fremde 
und eigne. Und womit beginnt und 
endigt es als mit der Antipathie ge⸗ 
gen die Welt, die jetzt to, een 
iſt? Der unerfahrne Eigendünkel 
ahndet gar nicht, daß dies nur Man⸗ 
gel an Sinn und Verſtand ſey und 
haͤlt es fuͤr hohen Unmuth uͤber die 


— 


85 
allgemeine Haͤßlichkeit der Welt und 
des Lebens, von denen er doch noch 
nicht einmal das leiſeſte Vorgefuͤhl 
hat. Er kann es nicht haben, denn 
der Fleiß und der Nutzen ſind die To⸗ 
desengel mit dem feurigen Schwerdt, 
welche dem Munſchen die Ruͤckkehr 
ins Paradies verwehren. Nur mit 
Gelaſſenheit und Sanftmuth, in der 
heiligen Stille der aͤchten Paſſivitaͤt 
kann man ſich an ſein ganzes Ich 
erinnern, und die Welt und das Le⸗ 
ben anſchauen. Wie geſchieht alles 
Denken und Dichten als daß man 
ſich der Einwirkung irgend eines 
Genius ganz uͤberlaͤßt und hingiebt? 
Und doch iſt das Sprechen und 
Bilden nur Nebenſache in allen Kuͤn⸗ 


ſten und Wiſſenſchaften, das Weſenk⸗ 


—— —— 


86 


liche iſt das Denken und Dichten, 
und das iſt nur durch Paſſivitaͤt 
möglich. dreylich ich iſt es eine abſicht⸗ 
liche, willkürliche „ einſeitige, aber 
doch Paſſivitaͤt. Je ſchoͤner das 
Klima iſt, je paſſiver iſt man. Nur 
Italiaͤner wiſſen zu gehen, und nur 
die im Orient verſtehen zu liegen; 
wo hat ſich aber der Geiſt zarter 
und ſuͤßer gebildet als in Indien? 
Und unter allen — iſt 
Vornehme ge ei 
det, und das eigentliche Prinzip des 
Adels. 

Endlich wo iſt mehr Genuß, und 
mehr Dauer, Kraft und Geiſt des 
Genuſſes: bey den Frauen, deren 
Verhaͤltniß wir Paſſivitaͤt nennen, 


87 
oder etwa bey den Männern, bey 
denen der Übergang von uͤbereilen⸗ 
der Wuth zur Langenweile ſchneller 
iſt, als der uͤbergang vom Guten 
zum Boͤſen? 

In der That man ſollte das 
Studium des Muͤſſiggangs nicht ſo 


ſtraͤflich vernachlaͤſſigen, ſondern es 
zur Kunſt und Wiſſenſchaft, ja zur 
Religion bilden! Um alles in Eins 
zu faſſen: je goͤttlicher ein Menſch 
oder ein Werk des Menſchen iſt, je 
aͤhnlicher werden ſie der Pflanze; 
dieſe iſt unter allen Formen der Na⸗ 
tur die ſittlichſte, und die ſchoͤnſte. 
Und alſo waͤre ja das hoͤchſte vol⸗ 
lendetſte Leben nichts als ein reines 
Vegetiren. 

Ich nahm mir vor, mich zufrie⸗ 


88 


den im Genuß meines Dafeyns über 
alle doch endliche, und alſo veraͤcht⸗ 
liche Zwecke und Vorſaͤtze zu erhe⸗ 
ben. Die Natur ſelbſt ſchien mich 
in dieſem Unternehmen zu beſtaͤrken, 
und mich gleichſam in vielſtimmigen 
Choraͤlen zum fernern Muͤſſiggang 
zu ermahnen, als ſich plöglich eine 
neue Erſcheinung offenbarte. Ich 
glaubte unſichtbarerweiſe in einem 
Theater zu ſeyn: auf der einen Seite 
zeigten ſich die bekannten Bretter, 


Lampen, und bemalten Pappen; auf 


der andern ein unermeßliches Ge⸗ 
draͤnge von Zuſchauern, ein wahres 
Meer von wißbegierigen Koͤpfen und 
theilnehmenden Augen. An der rech⸗ 
ten Seite des Vorgrundes war ſtatt 


der Dekoration ein Prometheus ab⸗ 


1 

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89 


gebildet, der Menſchen verf t 


Er war an einer langen Kette ge- 
feſſelt, und arbeitete mit der groͤßten 
Haſt und Anſtrengung; auch ſtan⸗ 
den einige ungeheure Geſellen da— 
neben, die ihn unaufhoͤrlich antrie⸗ 
ben und geiſſelten. Leim und an⸗ 
dre Materialien waren im Überfluß 
da; das Feuer nahm er aus einer 
großen Kohlenpfanne. Gegenuͤber 
zeigte ſich auch als ſtumme Figur 
der vergoͤtterte Herkules, wie er ab⸗ 
gebildet wird mit der Hebe auf dem 
Schooß. Vorn auf der Bühne lie⸗ 
fen und ſprachen eine Menge ju— 
gendlicher Geſtalten, die ſehr froͤh⸗ 
lich waren, und nicht bloß zum 
Schein lebten. Die juͤngſten glichen 
Amorinen, die mehr erwachſenen 


1 


n \ 
fertigte. 


— 


90 

den Bildern von Faunen: aber jeder 
hatte feine eigne Manier, eine auf⸗ 
fallende Originalitaͤt des Geſichts, 
und alle hatten irgend eine Ahnlich⸗ 
keit von dem Teufel der chriſtlichen 
Maler oder Dichter; man haͤtte ſie 
Satanisken nennen moͤgen. Einer 
der kleinſten ſagte: »Wer nicht ver- 
achtet, der kann auch nicht achten; 
„beides kann man nur unendlich, 
sund der gute Ton beſteht darin, 
»daß man mit den Menſchen ſpielt. 
»Iſt alſo nicht eine gewiſſe äche 
»fche Bosheit ei ein weſentliches Stuͤck 
»der harmoniſchen Ausbildung ?« 
»Nichts iſt toller, ſagte ein andrer, 
als wenn die Moraliften euch 
„Vorwuͤrfe über den Egoiſmus ma⸗ 
»chen. Sie haben vollkommen Un⸗ 


Ke 


91 
»recht: denn welcher Gott kann dem 
»Menſchen ehrwuͤrdig ſeyn, der 
» nicht fein eigner Gott iſt? Ihr irrt 
»freylich darin, daß ihr ein Ich zu 
»haben glaubt; aber wenn ihr in⸗ 
»deſſen euren Leib und Namen oder 
eure Sachen dafür haltet, jo wird 
»doch wenigſtens ein Logis bereitet, 
»wenn etwa ja noch ein Ich kom⸗ 
»men ſollte.« — »Und dieſen Pro⸗ 
»metheus koͤnnt ihr nur recht in Eh⸗ 
ren halten, ſagte einer der größten; 
»er hat euch alle gemacht, und macht 
»immer mehrere eures gleichen.“ — 
In der That warfen auch die Ge— 
ſellen jeden neuen Menſchen, ſowie 
er fertig war, unter die Zuſchauer 
herab, wo man ihn ſogleich gar 
nicht mehr unterſcheiden konnte, ſo 


92 | 

ähnlich waren fie alle. »Er fehlt 
snur in der Methodel« fuhr der 
Sataniskus fort: »Wie kann man 
„allein Menſchen bilden wollen? 
»Das ſind gar nicht die rechten 
„Werkzeuge.“ Und dabey winkte er 
auf eine rohe Figur vom Gott der 
Gaͤrten, die ganz im Hintergrunde 
der Buͤhne zwiſchen einem Amor und 
einer ſehr ſchoͤnen unbekleideten 
Venus ſtand. Darin dachte unſer 
Freund Herkules richtiger, der funf⸗ 
»zig Mädchen in einer Nacht für 
das Heil der Menſchheit beſchaͤftigen 
konnte, und zwar heroiſche. Er hat 
auch gearbeitet und viel grimmige 
»Unthiere erwürgt, aber das Ziel 
»feiner Laufbahn war doch immer 
ein edler Muͤſſiggang, und darum 


. De 


VE en Tr 


we 


93 


»ift er auch in den Olymp gekom⸗ 
»men. Nicht jo dieſer Prometheus, 
»der Erfinder der Erziehung und Auf: 
»klaͤrung. Von ihm habt ihr es, daß 
»ihr nie ruhig ſeyn koͤnnt, und euch 
»immer ſo treibt; daher kommt es, 
»daß ihr, wenn ihr ſonſt gar nichts 
»zu thun habt, auf eine alberne 
»Weiſe ſogar nach Charakter ſtreben 
»müßt, oder euch einer den andern 
»beobachten und ergruͤnden wollt. 
»Ein ſolches Beginnen iſt niedertraͤch— 
»tig. Prometheus aber, weil er die 
»Menſchen zur Arbeit verfuͤhrt hat, 
»ſo muß er nun auch arbeiten, er 
»mag wollen oder nicht. Er wird 
»noch Langeweile genug haben, und 
» nie von feinen Feſſeln frey werden. 
Da dies die Zuſchauer hoͤrten, brachen 


94 

fie in Thraͤnen aus, und ſprangen 
auf die Buͤhne um ihren Vater der 
lebhafteſten Theilnahme zu verſichern; 
und ſo verſchwand die allegoriſche 
Komoͤdie. 


Treue und Scherz. 

Du biſt doch allein, Lueinde? — 
Ich weiß nicht ... vielleicht ... ich 
glaube — Bitte, Bitte! liebe Lu⸗ 
einde. Weißt du wohl wenn die 
kleine Wilhelmine, Bitte, Bitte! ſagt, 
und man thut's nicht gleich, ſo 
ſchreyt ſie's immer lauter und ernſt⸗ 
hafter, bis ihr Wille geſchieht. — 
Alſo das haſt du mir ſagen wollen, 
darum ſtuͤrzeſt du ſo außer Athem 
ins Zimmer und haſt mich ſo er⸗ 
ſchreckt? — Sey nicht boͤſe, ſuͤßes 


95 
Weib! o laß mich, mein Kind! du 
Schoͤne! mach mir keine Vorwuͤrfe, 
gutes Mädchen! — Nun wirft du 
noch nicht bald ſagen: ſchließ die 
Thuͤren zu? — So? . . . Gleich will 
ich dir antworten. Nur erſt einen 
recht langen Kuß, und wieder einen, 
dann noch einige und viele andre 
mehr. — O, du mußt mich nicht ſo 
kuͤſſen, wenn ich vernünftig bleiben 
ſoll. Das macht boͤſe Gedanken. — 
Die verdienſt du. Kannſt du wirk⸗ 


Wer haͤtte das denken ſollen! aber 
ich weiß wohl, du lachſt bloß weil 
du mich auslachen kannſt. Aus 
Luſt thuſt du es nicht. Denn wer 
ſah nur eben ſo ernſthaft aus wie 
ein roͤmiſcher Senator? Recht ent⸗ 


—— ne nn 


96 
zuͤckend haͤtteſt du ausſehen koͤnnen, 
liebes Kind! mit deinen heiligen 
dunkeln Augen, mit deinen langen 
ſchwarzen Haaren im glaͤnzenden 
Wiederſchein der Abendſonne, wenn 
du nicht da geſeſſen haͤtteſt, als 
ſaͤßeſt du zu Gericht. Bey Gott! du 
haſt mich ſo angeblickt, daß ich or⸗ 
dentlich zuruͤckfuhr. Ich haͤtte bald 
das wichtigſte vergeſſen, und bin 
ganz in Confuſion gerathen. Aber 
warum ſprichſt du denn gar nicht? 
Bin ich dir zuwider? — Nun das 
iſt komiſch! du naͤrriſcher Julius! 
wen laͤßt du zum Reden kommen? 
deine Zaͤrtlichkeit fließt heute ja wie 
ein Platzregen. — Wie dein Geſpraͤch 
in der Nacht. — O das Halstuch 
laſſen Sie nur, mein Herr. — Laſſen? 
Nichts 


97 


Nichts weniger als das. Was ſoll 
ſo ein elendes dummes Halstuch? 
Vorurtheile! Aus der Welt muß es. 
— Wenn uns nur nicht jemand 
ſtoͤrt! — Sieht ſie nicht ſchon wie⸗ 
der aus, als ob ſie weinen wollte! 
Du biſt doch wohl? Warum ſchlaͤgt 
dein Herz ſo unruhig? Komm, laß 
mich's kuͤſſen. Ja du ſagteſt vorhin 
von Thuͤren zuſchließen. Gut, aber 
fo nicht, nicht hier. Geſchwind her: 
unter durch den Garten, nach dem 
Pavillon, wo die Blumen ſtehn. 
Komm! o laß mich nicht ſo lange 
warten. — Wie Sie befehlen, mein 
Herr! — Ich weiß nicht, du biſt 
heute jo ſonderbar. — Wenn du ans 
faͤngſt zu moraliſiren, lieber Freund, 


ſo koͤnnten wir eben ſo gut wieder 
Lucinde I. G 


98 

zurückgehen. Lieber gebe ich dir noch 

einen Kuß und laufe voran. — O 

fliehen Sie nicht ſo ſchnell, Lueinde, 

die ra wird Sie doch nicht ein⸗ 

holen. Du wirſt fallen, Liebe! — 

Ich habe dich nicht laͤnger warten 

laſſen wollen. Nun ſind wir ja da. 

Und du biſt auch eilig. — Und du 

ſehr gehorſam. Aber jetzt iſt nicht 
Zeit zu ſtreiten. — Ruhig, ruhig! — 
Siehſt du, hier kannſt du weichlich 
ruhn und wie es recht iſt. Nun wenn 
du diesmal nicht .. .. fo haft du gar 
keine Entſchuldigung. — Wirſt du⸗ 
nicht wenigſtens erſt den Vorhang 
niederlaſſen? — Du haſt Recht, die 
Beleuchtung wird ſo viel reizender. 
Wie ſchoͤn glaͤnzt dieſe weiße Huͤf⸗ 
te in dem rothen Schein.. Warum 


. 


CCC 


33 


ke 


99 
fo kalt, Lueinde? — Lieber, ſetze die 
Hy einthen weiter weg, der Geruch 
ven mich. — Wie feſt und ſelbſt⸗ 
ſtaͤndig, wie glatt und fein! Das iſt 


— 


harmoniſche Ausbildung. — O nein, 


Julius! laß, ich bitte dich, ich will 
nicht. — Darf ich nicht fuͤhlen, ob 
du gluͤhſt wie ich? O ſo laß mich 
doch die Schläge deines Herzens laus 
ſchen, die Lippen in dem Schnee des 
Buſens Fühlen! .... Kannſt du mich 
wegdruͤcken? Ich werde mich raͤchen. 
Umarme mich feſter, Kuß gegen 
Kuß; nein! nicht mehrere, einen ewi⸗ 
gen. Nimm meine Seele ganz und 
gieb mir deine! ... O ſchoͤnes 


herrliches Zugleich! Sind wir nicht 


Kinder? Sprich doch! wie konn⸗ 


teſt du nur erſt fo gleichgültig 


G 2 


—— 3 —Uüà—-— 
— 


— — 


100 


und kalt ſeyn, und nachher, wie du 
mich endlich feſter an dich zogſt, 
machteſt du in demſelben Augenblick 
ein Geſicht, als wenn dir etwas 
weh thaͤte, als ob es dir leid waͤre, 
daß du meine Gluth erwiederteſt. 
Was iſt dir? du weinſt? Verbirg 
nicht dein Geſicht! Sieh mich an, 
Geliebte! — O laß mich hier an 
dich liegen, ich kann dir nicht in die 
Augen ſehen. Es war recht ſchlecht 
von mir, Julius! Kannſt du mir 
verzeihen, du liebenswuͤrdiger Mann! 
Wirſt du mich nicht verlaſſen? kannſt 
du mich noch lieben? — Komm zu 
mir, mein ſuͤßes Weib! hier an mei⸗ 
nem Herzen. Weißt du noch neu⸗ 
lich, wie ſchoͤn es war, wie du in 
meinen Armen weinteſt? wie leicht 


IOI 


dir wurde? Aber ſprich nun auch, 
was iſt dir, Liebe? biſt du boͤſe auf 
mich? — Auf mich bin ich boͤſe. 
Ich koͤnnte mich ſchlagen ... Dir 
freylich waͤre ganz Recht geſchehen; 
und wenn Sie ſich kuͤnftig wieder 
einmal ehemaͤnnlich betragen, mein 
Herr! jo werde ich ſchon beſſer da⸗ 
fuͤr ſorgen, daß Sie mich auch wie 
eine Ehefrau finden ſollen. Darauf 
kannſt du dich verlaſſen. Ich muß 
lachen, wie es mich uͤberraſcht hat. 
Aber bilden Sie ſich nur nicht ein, 
mein Herr, daß du ſo unmenſchlich 
liebenswuͤrdig biſt. Diesmal war es 
eigner Wille, daß ich meinen Vor⸗ 
ſatz brach. — Der erſte und der 
letzte Wille iſt immer der beſte. Da⸗ 
fuͤr daß die Frauen meiſtens weniger 


102 


ſagen, als fie meinen, thun fie bis⸗ 
weilen mehr als ſie wollen. Das iſt 
nicht mehr als billig: der gute Wille 
verfuͤhrt euch. Der gute Wille iſt 
etwas ſehr gutes, aber das iſt 
ſchlimm an ihm, daß er immer da 
iſt, auch wenn man ihn nicht will. 
— Das iſt ein ſchoͤner Fehler. Aber 
ihr ſeyd voll von boͤſem Willen und 
verſtockt euch darin. — O nein! wenn 
wir verſtockt ſcheinen, ſo iſts bloß 
weil wir nicht anders koͤnnen und 
alſo nicht boͤſe. Wir koͤnnen nicht, 
weil wir nicht recht wollen; es iſt 
alſo nicht boͤſer Wille, ſondern Man⸗ 
gel an Willen. Und an wem liegt 
da wieder die Schuld als an euch, 
daß ihr uns nicht mittheilen wollt 


von eurem uͤberfluß, und den guten 


103 


Willen allein behalten wollt? Übri- 
gens iſts ganz wider Willen geſche— 
hen, daß ich hier ſo in den Willen 
gerathen bin, und ich weiß ſelbſt 
nicht, was wir damit wollen. In⸗ 
deſſen iſts immer beſſer, wenn ich 
mein Muͤthchen an einigen Worten 
fühle, als wenn ich das ſchoͤne Por: 
cellan zerſchluͤge. Bey dieſer Ge— 
legenheit habe ich mich doch von 
meinem erſten Erſtaunen uͤber Ihr 
unerwartetes Pathos, Ihre vortref— 
liche Rede und Ihren ruͤhmlichen 
Vorſatz etwas erholen koͤnnen. In 
der That iſt dies einer der ſeltſam⸗ 
ſten Streiche von denen, die Sie 
mir die Ehre verſchafft haben kennen 
zu lernen; und ſoviel ich mich er⸗ 
innern kann, haben Sie ſchon ſeit 


104 


einigen Wochen bey Tage nicht in 
jo geſetzten und vollen Perioden ge⸗ 
redet, wie in Ihrer gegenwaͤrtigen 
Predigt. Iſt es Ihnen gefaͤllig, 
Ihre Meinung in Proſa zu uͤber⸗ 
ſetzen? — Haſt du den geſtrigen 
Abend und die intereſſante Geſell⸗ 
ſchaft wirklich ſchon ganz vergeſſen? 
Freylich, das wußte ich nicht. — 
Alſo daruͤber biſt du boͤſe, weil ich 
zu viel mit Amalien geſprochen 
habe? — Sprechen Sie doch ſo viel 
Sie wollen und mit wem Sie wol⸗ 
\ len. Aber artig ſollſt du mir be 
\ gegnen, das will ich haben. — Du 
ſprachſt ſo ſehr laut, der Fremde 
ſtand gleich daneben, ich war aͤngſt⸗ 
lich und wußte mir nicht anders zu 
helfen. — Als unartig zu ſeyn, weil 


105 


du ungeſchickt warſt? — Verzeih 
mir nur! Ich bekenne mich ſchuldig, 
du weißt wie verlegen ich mit dir 
in Geſellſchaft bin. Es thut mir 
leid in Gegenwart der Andern mit 
dir zu ſprechen. — Wie ſchoͤn weiß 
er ſich heraus zu reden! — Laß mir 
ſo etwas nie hingehen, und ſey 
recht aufmerkſam und ſtrenge. Aber 
ſieh, was du nun gethan haſt! Iſt es 
nicht Entweihung? O nein! es iſt 
nicht moͤglich, es iſt mehr als das. 
Geſteh mir's nur, es war Eifer: 
ſucht. — Den ganzen Abend hatteſt 
du mich unfreundlich vergeſſen. Ich 
wollte dir heute fruͤh alles ſchreiben, 
aber ich habe es wieder zerriſſen. — 
Und da ich eben kam? — Verdroß 
mich deine gewaltige Eil. — Koͤnnteſt 


RER 


Deve 


106 


du mich lieben, wenn ich nicht 
fo brennbar und elektriſch wäre? 
biſt du es nicht auch? haſt du unſre 
erſte Umarmung vergeſſen? In einem 
Augenblick iſt die Liebe da, ganz 
und ewig, oder gar nicht. Alles 
Göttliche und alles Schöne iſt ſchnell 
und leicht. Oder ſammelt die Freude 
ſich etwa ſo wie Geld und andre 
Materien durch ein conſequentes Be⸗ 
tragen? Wie eine Muſik aus der 
Luft, uͤberraſcht uns das hohe Gluͤck, 
erſcheint und verſchwindet. — So 
biſt du mir erſchienen, du Theurer! 
Aber willſt du mir verſchwinden? 
Das ſollſt du nicht, ich ſage es dir. 
— Ich will nicht. Ich will bey 
dir bleiben, uͤberhaupt, und auch 
jetzt. Hoͤre, ich habe große Luſt 


107 


* 


einen langen Diſkurs u ie Eifer⸗ 
ſucht mit dir zu halten: aber eigent⸗ 
lich ſollten wir erſt die beleidigten 
Götter verſoͤhnen. — Lieber erſt den 
Diſkurs, und hernach die Goͤtter. — 
Du haſt Recht, wir ſind noch nicht 
wuͤrdig, und du fuͤhlſt es lange 
nach, wann du geſtoͤrt und verſtimmt 
wurdeſt. Wie ſchoͤn iſt es, daß du 
ſo empfindlich biſt! — Ich bin nicht 
empfindlicher wie du, nur anders. 
— Nun ſo ſage mir: ich bin nicht 
eiferfüchtig; wie kommts, daß du 
eiferſuͤchtig biſt? — Bin ich's denn 
ohne Urſache? Antworten Sie mir! 
— Ich weiß ja nicht was du 
meinſt. — Nun eiferſuͤchtig bin ich 
eigentlich nicht; aber ſage mir, was 
Ihr den ganzen Abend zuſammen 


108 


gefprochen habt? — Auf Amalien 
alſo? iſt das möglich? So eine Kin⸗ 
derey! Von gar nichts habe ich mit 
ihr geſprochen, und darum war es 
amuͤſant. Und habe ich nicht eben 
ſo lange mit Antonio geſprochen, 
den ich doch eine Zeit her faſt alle 
Tage ſah? — Ich ſoll alſo wohl 
glauben, du ſprichſt mit der koquet⸗ 
ten Amalia wie mit dem ſtillen ernſt⸗ 
haften Antonio? Nicht wahr, es iſt 
nichts wie klare reine Freundſchaft? 
— O nein, das ſollſt du nicht glau⸗ 
ben, und mußt es auch nicht glau⸗ 
ben; ſo iſt es gar nicht. Wie kannſt 
du mir eine ſolche Albernheit zu⸗ 
traun? denn etwas recht albernes 
iſt es, wenn ſo zwey Perſonen von 
verſchiedenem Geſchlecht ſich ein Ver⸗ 


109 


haͤltniß ausbilden und einbilden, wie 
reine Freundſchaft. Mit Amalien 
iſt es gar nichts, als daß ich ſie 
zum Scherz liebe. Ich moͤchte ſie 
gar nicht, wenn ſie nicht ein wenig 
koquett waͤre. Gaͤbe es nur mehr 
ſolche in unſerm Cirkel! eigentlich 
muß man alle Frauen im Scherze 
lieben. — Julius! ich glaube, du wirſt 
ganz naͤrriſch. — Nun verſteh mich 
wohl; nicht eigentlich alle, ſondern 
nur alle, die liebenswuͤrdig ſind und 
die einem eben vorkommen. — Das 
iſt alſo weiter nichts als was die 
Franzoſen Galanterie und Coquett 
nennen. — Weiter nichts, außer 
daß ichs mir ſchoͤn nnd witzig denke. 
Und dann muͤſſen die Menſchen wif- 
ſen, was ſie thun und was ſie 


— 


110 


wollen, und das iſt ſelten der Fall. 
Der feine Scherz verwandelt ſich in 
ihren Händen gleich wieder in gro: 
ben Ernſt. — Dieſes im Scherz lie⸗ 
ben iſt nur gar nicht ſcherzhaft zu⸗ 
zuſehen. — Daran iſt der Scherz 
unſchuldig; das iſt nichts wie die 
fatale Eiferſucht. Verzeih mir, Liebe! 
ich will nicht auffahren, aber ich 
begreife durchaus nicht wie man ei⸗ 
ferſuͤchtig ſein kann: denn Beleidi⸗ 
gungen finden ja nicht Statt unter 
Liebenden, ſo wenig wie Wohltha⸗ 
ten. Alſo muß es Unſicherheit ſeyn, 
Mangel an Liebe und Untreue ge⸗ 
gen ſich ſelbſt. Fuͤr mich iſt das 
Gluͤck gewiß und die Liebe Eins mit 
der Treue. Freylich wie die Men⸗ 
ſchen ſo lieben, iſt es etwas anders. 


* Er — 
— EG 


Eu 


EEE EZERE 


111 


Da liebt der Mann in der Frau 
nur die Gattung, die Frau im 
Mann nur den Grad ſeiner natuͤr⸗ 
lichen Qualitäten und ſeiner buͤrger— 


— 


lichen Exiſtenz, und beyde in den 
Kindern nur ihr Machwerk und ihr 
Eigenthum. Da iſt die Treue ein 


Verdienſt und eine Tugend; und da 
iſt auch die Eiferſucht an ihrer 
Stelle. Denn darin fuͤhlen ſie un⸗ 
gemein richtig, daß ſie ſtillſchwei⸗ 
gend glauben, es gäbe ihres Glei⸗ 
chen viele, und einer ſey als Menſch 
ungefaͤhr ſo viel werth wie der 
andre, und alle zuſammen nicht eben 
ſonderlich viel. — Du haͤltſt alſo die 
Eiferſucht fuͤr un en . — als leere 
Rohheit und Unbibung. — — Ja oder 
für Mißb dung und Verkehrtheit, 


. 


112 


was eben ſo arg, oder noch ärger 
ift. Nach jenem Syſtem ift es noch 
das beſte, wenn man mit Abſicht 
aus bloßer Gefaͤlligkeit und Höflich⸗ 
keit heirathet; und gewiß muß es 
fuͤr ſolche Subjekte eben ſo bequem 
als unterhaltend ſeyn, ; im Ve halte 
niß der Wechſelverachtüng neben 
einander weg zu leben. Beſonders 
die Frauen koͤnnen eine ordentliche 
Paſſion fuͤr die Ehe beko e und 
wenn eine ſolche erſt Geſchmack da⸗ 
ran findet, ſo geſchieht es leicht, daß 
ſie ein halbes Dutzend nach einan⸗ 
der heirathet, geiſtig oder leiblich; 
wo es denn nie an Gelegenheit ge⸗ 
bricht, mit Abwechſelung delikat zu 
ſeyn und viel von der Freundſchaft 
zu reden. — Du haſt ſchon vorhin 


ſo 


4 


113 


fo geſprochen als hielteſt du uns zur 
Freundſchaft unfaͤhig. Iſt das wirk⸗ 
lich deine Meinung? — Ja! aber 
die Unfaͤhigkeit, glaube ich, liegt 
mehr in der Freundſchaft als in euch. 
Ihr liebt alles, was ihr liebt, ganz, 
wie den Geliebten und das Kind. 
Dieſen Charakter wuͤrde ſelbſt ein 
ſchweſterliches Verhaͤltniß bey euch 
annehmen. — Darin haſt du Recht. 
— Die Freundſchaft iſt fuͤr euch zu 
vielſeitig und zu einſeitig. Sie muß 
ganz geiſtig ſeyn und durchaus be⸗ 
ſtimmte Graͤnzen haben. Dieſe Ab⸗ 
ſonderung wuͤrde euer Weſen nur 
auf eine feinere Art eben ſo vollkom⸗ 
men zerſtoͤren wie bloße Sinnlichkeit 
ohne Liebe. Fuͤr die Geſellſchaft 


aber iſt ſie zu ernſt, zu tief und zu 
Lucinde I. H 


0 4 
heilig. — Können denn Menſchen 
nicht mit einander reden, ohne da⸗ 
nach zu fragen, ob ſie Maͤnner oder 
Frauen ſind? — Das duͤrfte ſehr 
ernſthaft ausfallen. Aufs hoͤchſte 
moͤchte es einen intereſſanten Klub 
geben. Du verſtehſt was ich meine. 
Es waͤre ſchon viel, wenn man da 
frey und witzig reden duͤrfte, und 
weder zu wild noch zu ſteif waͤre. 
Das Feinſte und das Beſte wuͤrde 
immer fehlen, was uͤberall, wo ſich 
ein bischen gute Geſellſchaft zeigt, 
Geiſt und Seele davon iſt. Und 
das iſt der Scherz mit der Liebe 
und die Liebe zum Scherz, der ohne 
den Sinn fuͤr jenen zum Spaß her⸗ 
abſinkt. Aus dieſem Grunde nehme 
ich auch die Zweydeutigkeiten in 


115 
Schutz. — Thuſt du das im Scherz 
oder zum Spaß? — Nein, nein! 
ich thue es im vollen Ernſt. — Aber 
doch nicht jo ernſthaft und fo feyer⸗ 
lich wie Pauline und ihr Liebha⸗ 
ber? — Gott behuͤte! ich glaube, die 
ließen die Betglocken anziehen, wenn 
fie ſich umarmen, falls es nur ſchick— 
lich waͤre. O! es iſt wahr, meine 
Freundin, der Menſch iſt von Na⸗ 
tur eine ernſthafte Beſtie. Man muß 
dieſem ſchaͤndlichen und leidigen Han⸗ 
ge aus allen Kraͤften und von allen 
Seiten entgegenarbeiten. Dazu ſind 
die Zweydeutigkeiten auch gut, nur 
ſind ſie ſo ſelten zweydeutig, und 
wenn ſie es nicht ſind und nur ei⸗ 
nen Sinn zulaſſen, das iſt eben 
nicht unſittlich, aber zudringlich und 

H 2 


| 


116 


platt. Leichtfertige Gefpräche müffen 
geiftig und zierlich und 1 
ſeyn, ſo viel als moͤglich; uͤbrigens 
aber rüchlos genug. — Das iſt gut, 
aber was ſollen ſie grade in der 
Geſellſchaft? — Sie ſollen das Ge⸗ 
ſpraͤch friſch erhalten, wie das Salz 
an den Speiſen. Es fraͤgt ſich gar 
nicht, warum man ſie ſagen ſoll, 
ſondern nur wie man ſie ſagen ſoll. 
Denn laſſen kann und darf mans 
doch nicht. Es waͤre ja grob mit 
einem reizenden Maͤdchen ſo zu re⸗ 
den, als ob ſie ein geſchlechtsloſes 
Amphibion waͤre. Es iſt Pflicht und 
Schuldigkeit immer auf das anzu⸗ 
ſpielen, was ſie iſt und ſeyn wird; 
und ſo unzart, ſteif und ſchuldig, 
wie die Geſellſchaft einmal beſteht, 


117 
iſt es wirklich eine komiſche Situa⸗ 
zion, ein unſchuldiges Maͤdchen zu 
ſeyn. — Das erinnert mich an den 
beruͤhmten Buffo der ſelbſt oft ſehr 
traurig war, waͤhrend er alle zu 
lachen machte. — Die Geſellſchaft iſt 
ein Chaos, das nur durch Witz zu 
bilden und in Harmonie zu bringen 
iſt; und wenn man nicht ſcherzt und 
taͤndelt mit den Elementen der Lei⸗ 
denſchaft, ſo ballt ſie ſich in dicke 
Maſſen und verfinſtert alles. — So 
moͤgen hier wohl Leidenſchaften in 
der Luft ſeyn: denn es iſt beynah 
finſter. — Gewiß haben Sie Ihre 
Augen zugeſchloſſen, Dame meines 
Herzens! Sonſt wuͤrde eine allge⸗ 
meine Klarheit unfehlbar das Zim⸗ 
mer durchſtrahlen. — Wer iſt wohl 


une! 


118 


leidenſchaftlicher, Julius! ich oder 
du? — Wir ſind's beide genug. 
Ohne das moͤchte ich nicht leben. 
Und ſieh! darum koͤnnte ich mich 
mit der Eiferſucht ausſoͤhnen. Es 
iſt alles in der Liebe: Freundſchaft, 
ſchoͤner Umgang, Sinnlichkeit und 
auch Leidenſchaft; und es muß alles 
darin ſeyn, und eins das andre ver⸗ 
ſtaͤrken und lindern, beleben und er⸗ 
hoͤhen. — Laß dich umarmen, du 
Treuer! — Aber nur unter einer 
Bedingung kann ich dir die Eifer⸗ 
ſucht erlauben. Ich habe oft ge⸗ 
fuͤhlt, daß eine kleine Doſis von ge⸗ 
bildetem, verfeinertem Zorn einen 
Mann nicht uͤbel kleidet. Vielleicht 
iſt's dir ſo mit der Eiferſucht. — 
Getroffen! und alſo brauche ich ſie 


119 
nicht ganz abzuſchwoͤren. — Wenn 
ſie ſich nur immer ſo ſchoͤn und ſo 
witzig aͤußerte wie heute bey dir! — 
Findeſt du das? Nun wenn du das 
naͤchſtemal ſchoͤn und witzig auf: 
faͤhrſt, werde ich dir's auch ſagen 


und dich loben. — Sind wir nun 
nicht wuͤrdig, die beleidigten Goͤtter 
zu verſoͤhnen? — Ja, wenn dein 


Diskurs ganz zu Ende iſt, ſonſt 
ſage noch das uͤbrige. — 


Lehrjahre der Maͤnnlichkeit. 


Pharao zu ſpielen mit dem An⸗ 
ſcheine der heftigſten Leidenſchaft 
und doch zerſtreut und abweſend zu 
ſeyn; in einem Augenblicke von Hitze 
alles zu wagen und ſobald es ver- 
loren war, ſich gleichguͤltig wegzu⸗ 


120 


wenden: das war nur eine von den 
ſchlimmen Gewohnheiten, unter de⸗ 
nen Julius ſeine wilde Jugend ver⸗ 
ſtuͤrmte. Dieſe eine iſt genug, den 
Geiſt eines Lebens zu ſchildern . wel⸗ 
ches in der Fülle der empörten Kraͤfte 
ſelbſt den unvermeidlichen Keim ei⸗ 
nes fruͤhen Verderbens enthielt. Eine 
Liebe ohne Gegenſtand brannte in 
ihm und zerruͤttete ſein Innres. Bey 


dem geringſten Anlaß brachen die 
Flammen der Leidenſchaft aus; aber 


bald ſchien dieſe aus Stolz oder aus 
Eigenſinn ihren Gegenſtand ſelbſt 
zu verſchmaͤhen, und wandte ſich 
mit verdoppeltem Grimme zuruͤck in 
ſich und auf ihn, um da am Mark 
des Herzens zu zehren. Sein Geiſt 
war in einer beſtaͤndigen Gaͤhrung; 


121 


er erwartete in jedem Augenblick, es 
muͤſſe ihm etwas außerordentliches 
begegnen. Nichts wuͤrde ihn be⸗ 
fremdet haben, am wenigſten ſein 
eigner Untergang. Ohne Geſchaͤft 
und ohne Zweck trieb er ſich umher 
unter den Dingen und unter den 
Menſchen wie einer, der mit Angſt 
etwas ſucht, woran ſein ganzes 
Gluͤck haͤngt. Alles konnte ihn rei⸗ 
zen, nichts mochte ihm genuͤgen. 
Daher kam es, daß ihm eine Aus⸗ 
ſchweifung nur ſo lange intereſſant 
war, bis er ſie verſucht hatte und 
naͤher kannte. Keine Art derſelben 
konnte ihm ausſchließend zur Ge⸗ 
wohnheit werden: denn er hatte eben 
ſo viel Verachtung als Leichtſinn. 
Er konnte mit Beſonnenheit ſchwelgen 


122 


und fich in den Genuß gleichſam ver⸗ 
tiefen. Aber weder hier noch in den 
mancherley Liebhabereyen und Stu⸗ 
dien, auf die ſich oft ſein jugendli⸗ 
cher Enthuſiasmus mit einer ges 
fraͤßigen Wißbegier warf, fand er 
das hohe Gluͤck, das ſein Herz mit 
ungeſtüm foderte. Spuren davon 
zeigten ſich uͤberall, taͤuſchten und 
erbitterten ſeine Heftigkeit. Am mei⸗ 
ſten Reiz hatte der Umgang aller 
Art fuͤr ihn und ſo oft er auch ſo⸗ 
gar ſie uͤberdruͤßig ward, waren es 
doch die geſellſchaftlichen Zerſtreuun⸗ 
gen, zu denen er endlich immer wie⸗ 
der zuruͤckkehrte. Die Frauen kannte 
er eigentlich gar nicht, ungeachtet er 
ſchon fruͤh gewohnt war, mit ihnen 
zu ſeyn. Sie erſchienen ihm wun⸗ 


123 


derbar fremd, oft ganz unbegreiflich 
und kaum wie Weſen ſeiner Gat⸗ 
tung. Junge Maͤnner aber, die 
ihm einigermaßen glichen, umfaßte 
er mit heißer Liebe und mit einer 
wahren Wuth von Freundſchaft. Doch 
war das allein fuͤr ihn noch nicht 
das rechte. Es war ihm, als wolle 
er eine Welt umarmen und koͤnne 
nichts greifen. Und ſo verwilderte 
er denn immer mehr und mehr aus 
unbefriedigter Sehnſucht „ ward ſinn⸗ 
lich aus Verzweiflung am Geiſtigen, | 
beging unkluge Handlungen aus 
Trotz gegen das Schickſal und war 
wirklich mit einer Art von Treuher⸗ 
zigkeit unſittlich. Er ſah wohl den 
Abgrund vor ſich, aber er hielt es 
nicht der Muͤhe werth, ſeinen Lauf 


124 

zu mäßigen. Er wollte lieber gleich 
einem wilden Jäger den jaͤhen Ab⸗ 
hang raſch und muthig durchs Le⸗ 
ben hinunterſtuͤrmen, als ſich mit 
Vorſicht langſam quaͤlen. 

Bey dieſem Charakter mußte er 
oft in der geſelligſten und froͤhlich⸗ 
ſten Geſellſchaft einſam ſeyn, und 
er fand ſich eigentlich am wenigſten 
allein, wenn niemand bey ihm war. 
Dann berauſchte er ſich in Bildern 
der Hoffnung und Exinnerung und 
ließ ſich abſichtlich von ſeiner eignen 
Fantaſie verfuͤhren. Jeder ſeiner 
Wuͤnſche ſtieg mit unermeßlicher 
Schnelligkeit und faſt ohne Zwiſchen⸗ 
raum von der erſten leiſen Regung 
zur graͤnzenloſen Leidenſchaft. Alle 
ſeine Gedanken nahmen ſichtbare 


125 


Geftalt und Bewegung an und wirk— 
ten in ihm und wider einander mit 
der ſinnlichſten Klarheit und Gewalt. 
Sein Geiſt ſtrebte nicht die Zuͤgel 
der Selbſtherrſchaft feſt zu halten, 
ſondern warf ſie freywillig weg, um 
ſich mit Luſt und mit uͤbermuth in 
dies Chaos von innerm Leben zu 
ſtuͤrzen. Er hatte weniges erlebt 
und war doch voll von Erinnerun⸗ 
gen, auch aus fruͤher Jugend: denn 
ein ſonderbarer Augenblick von lei⸗ 
denſchaftlicher Stimmung, ein Ge⸗ 
ſpraͤch, ein Geſchwaͤtz aus der Tiefe 
des Herzens blieb ihm ewig theuer 
und deutlich, und noch nach Jahren 
wußte er's genau, als waͤre es ge⸗ 
genwaͤrtig. Aber alles was er liebte 
und mit Liebe dachte, war abge⸗ 


U An 


126 


riffen und einzeln. Sein ganzes Da⸗ 
ſeyn war in ſeiner Fantaſie eine 


Maſſe von Bruchſtuͤcken ohne Zu⸗ 


ſammenhang; jedes fuͤr ſich Eins 
und Alles, und das andre, was in 
der Wirklichkeit daneben ſtand und 
damit verbunden war, fuͤr ihn gleich⸗ 
guͤltig und ſo gut wie gar nicht 
vorhanden. 

Noch war er nicht ganz verdor⸗ 
ben, als im Schooß der einſamen 
Wuͤnſche ein heiliges Bild der Un⸗ 
ſchuld in ſeine Seele blitzte. Ein 
Strahl von Verlangen und Erinne⸗ 
rung traf und entzuͤndete ſie und 
dieſer gefährliche Traum war ent⸗ 
ſcheidend fuͤr ſein ganzes Leben. 

Er gedachte an ein edles Maͤd⸗ 
chen, mit dem er in ruhigen gluͤck⸗ 


127 


lichen Zeiten der frifchen Jugend aus 
reiner kindlicher Zuneigung freund— 


lich und fröhlich getaͤndelt hatte. Da . 


er der erſte war, welcher ſie durch 
ſein Intereſſe an ihr reizte, ſo wandte 
auch das liebliche Kind ihre junge 
Seele nach ihm hin, wie ſich die 
Blume zum Licht der Sonne neigt. 
Daß ſie kaum reif und noch an der 
Graͤnze der Kindheit war, reizte ſein 
Verlangen nur um fo unwiderſteh— 
licher. Sie zu beſitzen, ſchien ihm 
das hoͤchſte Gut; er war entſchloſ⸗ 
ſen alles zu wagen und glaubte 
nicht ohne das leben zu konnen. 
Dabey verabſcheute er die entfern⸗ 
teſte Erinnerung an buͤrgerliche Ver⸗ 
haͤltniſſe, wie jede Art von Zwang. 

Er eilte zuruͤck in ihre Naͤhe und 


— 


e 


128 


fand ſie ausgebildeter, aber noch 
eben ſo edel und eigen, ſo ſinnig 
und ſtolz wie ehedem. Was ihn 
noch mehr reizte als ihre Liebens⸗ 
wuͤrdigkeit, waren die Spuren von 
tiefem Gefuͤhl. Sie ſchien nur froͤh⸗ 
lich und leichtfertig durchs Leben zu 
ſchwaͤrmen wie uͤber eine blumen⸗ 
reiche Ebne, und verrieth doch ſeinem 
aufmerkſamen Auge die entſchiedenſte 
Anlage zu einer graͤnzenloſen Leiden⸗ 
ſchaftlichkeit. Ihre Neigung, ihre 
Unſchuld und ihr verſchwiegenes und 
verſchloſſenes Weſen boten ihm leicht 
Mittel dar, ſie allein zu ſehen, und 
die Gefahr, die damit verbunden 
war, erhoͤhte den Reiz des Unter⸗ 
nehmens. Aber mit Verdruß mußte 
er ſich's geſtehen, daß er ſeinem 

Ziele 


129 


Ziele nicht näher kam und ſchalt fich 
zu ungeſchickt, ein Kind zu verfuͤh— 
ren. Willig uͤberließ ſie ſich einigen 
Liebkoſungen und erwiederte ſie mit 
ſchuͤchterner Luͤſternheit. Sobald er 
aber dieſe Graͤnzen zu uͤberſchreiten 
beleidigt zu ſcheinen, mit unerbitt⸗ 
lichem Eigenſinn; vielleicht mehr aus 
Glauben an ein fremdes Gebot als 
aus eignem Gefuͤhl von dem, was 
allenfalls erlaubt ſey und von dem, 
was durchaus nicht. 

Indeſſen wurde er nicht muͤde 
zu hoffen und zu beobachten. Einſt 
uͤberraſchte er fie, als fie es am we⸗ 
nigſten erwartete. Sie war ſchon 
lange allein geweſen und mochte ſich 
ihrer Fantaſie und einer unbeſtimm⸗ 


Lucinde I. J 


130 


ten Sehnſucht mehr als gewöhnlich 
uͤberlaſſen haben. Da er dies ge— 
wahr ward, wollte er den Augen⸗ 
blick, der vielleicht nie wieder kaͤme, 
nicht verſcherzen und gerieth durch 
die plögliche Hoffnung ſelbſt in einen 
Taumel von Begeiſterung.“ Ein 

Strom von Bitten, von Schmeiche⸗ 
leien und von Sophismen floß von 
ſeinen Lippen. Er bedeckte ſie mit 
Liebkoſungen und er gerieth außer 
ſich vor Entzuͤcken, da das liebens⸗ 
wuͤrdige Koͤpfchen endlich an ſeine 
Bruſt ſank, wie ſich die zu volle 
Blume an ihrem Stengel ſenket. 
Ohne Zuruͤckhaltung ſchmiegte ſich 
die ſchlanke Geſtalt um ihn, die 
ſeidnen Locken der goldnen Haare 
floſſen uͤber ſeine Hand, mit zaͤrt⸗ 


. ner he 


131 
licher Sehnſucht öffnete ſich die 
Knoſpe des ſchoͤnen Mundes, und 
aus den frommen dunkelblauen 
Augen ſtrahlte und ſchmachtete ein 
ungewohntes Feuer. Sie ſetzte den 
kuͤhnſten Liebkoſungen nur noch 
ſchwachen Widerſtand entgegen. Bald 
hörte auch dieſer auf, fie ließ ploͤtz— 
lich ihre Arme ſinken, und alles war 
ihm hingegeben, der zarte jungfraͤu⸗ 
liche Leib und die Früchte des jun⸗ 
gen Buſens. Aber in demſelben Au— 
genblick brach ein Strom von Thraͤ⸗ 
nen aus ihren Augen, und die bit⸗ 
terſte Verzweiflung entftellte ihr Ges | 
ſicht. Julius erſchrack heftig; nicht 
ſowohl uͤber die Thraͤnen, aber er 
kam nun mit einem male zur vollen 
Beſinnung. Er dachte an alles was 


2 


— — 


132 


vorhergegangen war, und was nun 
folgen wuͤrde; an das Opfer vor 
ihm und an das arme Schickſal der 
Menſchen. Da uͤberlief ihn ein kal⸗ 
ter Schauder, ein leiſer Seufzer ſtahl 
ſich aus tiefer Bruſt uͤber ſeine Lip⸗ 
pen. Er verſchmaͤhte ſich ſelbſt von 
der Hoͤhe ſeines eignen Gefuͤhls, und 
vergaß die Gegenwart und ſeine Ab⸗ 
ſicht in Gedanken von allgemeiner 
Sympathie. 

Der Augenblick war verſaͤumt. 
Er ſuchte nur das gute Kind zu troͤ⸗ 
ſten und zu beſaͤnftigen, und eilte 
mit Abſcheu von dem Orte hinweg, 
wo er den Bluͤthenkranz der Un⸗ 
ſchuld muthwillig hatte zerreißen 
wollen. Er wußte wohl, daß man⸗ 
cher ſeiner Freunde, der noch weniger 


133 
an weibliche Tugend glaubte wie er, 
fein Benehmen ungeſchickt und laͤ⸗ 
cherlich finden würde. Er war bey: 
nah ſelbſt dieſer Meinung, da er 


wieder mit Kälte zu überlegen an⸗ 


fing. Indeſſen hielt er ſeine Dumm⸗ 
heit doch fuͤr ausgezeichnet und in— 
tereſſant. Er glaubte, es ſey noth⸗ 
wendig, daß edle Naturen in ge⸗ 
meinen Verhaͤltniſſen und in den 
Augen der Menge einfaͤltig oder ra— 
ſend erſcheinen muͤßten. Da bey 
dem naͤchſten Wiederſehn, wie er 
ſchlau bemerkte oder ſich einbildete, 
das Maͤdchen eher unzufrieden ſchien, 
daß es nicht ganz verfuͤhrt ſey, be⸗ 
ſtaͤtigte er ſich in ſeinem Mißtrauen 
und gerieth in eine große Erbitte⸗ 
rung. Es wandelte ihn beynah 


134 

eine Art von Verachtung an, zu der 
er doch ſo wenig berechtigt war. 
Er floh, zog ſich wieder in die alte 
Einſamkeit zuruͤck und verzehrte ſich 
in ſeiner eignen Sehnſucht. 

So lebte er von neuem eine Zeit 
auf die alte Weiſe in einem Wechſel 
von Schwermuth und Ausgelaſſen⸗ 
heit. Der einzige Freund, der Kraft 
und Ernſt genug hatte, ihn troͤſten 
und beſchaͤftigen zu koͤnnen und auf 
dem Wege zum Verderben einzuhal⸗ 
ten, war weit entfernt, und ſeine 
Sehnſucht alſo auch von dieſer Seite 
unbefriedigt. Heftig ſtreckte er einſt 
die Arme nach ihm aus, als muͤſſe 
er nun endlich da ſeyn, und troſt⸗ 
los ließ er ſie wieder ſinken, nach⸗ 
dem er lange vergeblich gewartet. 


135 


Er vergoß keine Thraͤne, aber ſein 
Geiſt fiel in eine Agonie von hoff: 
nungsloſer Wehmuth, aus der er 
ſich nur zu neuen Thorheiten er⸗ 
mannte. 

Er freute ſich laut, da er im 
Glanz der prachtvollen Morgenſonne 
auf die Stadt zuruͤckſah, die er 
ſchon als Kind geliebt und wo er 
nur noch eben ſo ganz lebte, und 
die er nun auf immer zu verlaſſen 
hoffte. Er athmete ſchon das friſche 
Leben der neuen Heimath, die ihn 
in der Fremde erwarten ſollte, und 
deren Bilder er ſchon mit Heftig⸗ 
keit liebte. 

Er fand bald einen andern rei⸗ 
zenden Wohnort, wo ihn zwar 
nichts feſſelte, aber doch vieles an⸗ 


136 


zog. Alle feine Kräfte und Neigun⸗ 
gen wurden rege durch die neuen 
Gegenſtaͤnde; ohne Zweck und Maaß 
in ſeinem Innern, nahm er Theil 
an allem Außern, was nur irgend 
merkwürdig war, und ließ ſich 
uͤberall ein. 

Da er auch in dieſem Geraͤuſch 
bald Leerheit und uͤberdruß empfand, 
ſo kehrte er oft zuruͤck zu ſeinen 
einſamen Traͤumen und wiederholte 
das alte Gewebe ſeiner unbefriedig⸗ 
ten Wuͤnſche. Eine Thraͤne entfiel 
ihm uͤber ſich ſelbſt, da er einſt im 
Spiegel ſah, wie truͤbe und ſtechend 
das Feuer der unterdruͤckten Liebe 
aus ſeinem dunkeln Auge brannte 
und wie ſich unter der wilden ſchwar⸗ 
zen Locke leiſe Furchen in die 


137 
kaͤmpfende Stirn gruben, und wie 
die Wange ſo bleich war. Er ſeufzte 
uͤber ſeine ungenutzte Jugend; ſein 
Geiſt empoͤrte ſich und waͤhlte unter 
den ſchoͤnen Frauen ſeiner Bekannt⸗ 
ſchaft die, welche am freyſten lebte 
und am meiſten in der guten Ge⸗ 
ſellſchaft glaͤnzte. Er nahm ſich vor, 
nach ihrer Liebe zu ſtreben und er 
erlaubte ſeinem Herzen, ſich ganz 
zu uͤberfuͤllen mit dieſem Gegenſtande. 
Was ſo wild und willkuͤhrlich begon- 
nen wurde, konnte nicht geſund en⸗ 
digen, und die Dame, welche eben 
ſo eitel als ſchoͤn war, mußte es 
ſonderbar und mehr als ſonderbar 
finden, wie Julius ſie mit der ernſt⸗ 
hafteſten Aufmerkſamkeit foͤrmlich zu 
umgeben und zu belagern anfing 


138 


und dabey bald jo dreist und zu⸗ 
verſichtlich war wie ein alter Be⸗ 
ſitzer, bald ſo ſchuͤchtern und fremd 
wie ein voͤllig Unbekannter. Da er 
ſich ſo ſeltſam zeigte, haͤtte er bey 
weitem reicher ſeyn muͤſſen, als er 
war, um ſolche Anſpruͤche haben zu 
duͤrfen. Sie hatte ein leichtes, mun⸗ 
teres Weſen und ihm ſchien ſie ar⸗ 
tig zu reden. Aber was er an der 
Geliebten fuͤr goͤttlichen Leichtſinn 
nahm, war nichts als ein gedan⸗ 
kenloſes Schwaͤrmen ohne eigentliche 
Freude und Froͤhlichkeit, und auch 
ohne Geiſt, ausgenommen ſo viel 
Verſtand und Schlauigkeit, als es 
braucht, um alles abſichtlich und 
zwecklos zu verwirren, die Maͤnner 
zu locken und zu lenken und ſich 


139 
ſelbſt in Schmeicheleyen zu berau⸗ 
ſchen. Zu ſeinem Ungluͤcke erhielt 
er einige Zeichen von Gunſt; von 
der Art, welche die Geberin nicht 
binden, weil ſie ſich nie dazu be⸗ 
kennen darf und welche den gefan— 
genen Neuling durch den Zauber 
der Heimlichkeit noch unaufloͤslicher 
feſſeln. Ihn konnte ſchon ein ver⸗ 
ſtohlner Blick und Haͤndedruck ganz 
bezaubern, oder ein Wort, was vor 
allen geſagt in ſeiner eigentlichen 
Beziehung und Anſpielung nur ihm 
verſtaͤndlich war, wenn die einfache 
und wohlfeile Gabe nur durch den 
Schein einer eignen ſonderbaren Be: 
deutſamkeit gewuͤrzt wurde. Sie gab 
ihm, wie er glaubte, ein noch deut⸗ 
licheres Zeichen und es beleidigte ihn 


140 


tief, daß fie ihn ſo wenig verſtehe, 
daß ſie ihm ſo ſehr zuvorkomme. Er 
war nicht wenig ſtolz darauf, daß 
ihn das beleidigte und doch reizte 
es ihn unwiderſtehlich, wenn er 
dachte, er duͤrfe nur ſchnell ſeyn 
und die guͤnſtige Gelegenheit ergrei⸗ 
fen, um ohne Hinderniß ans Ziel 
zu gelangen. Er machte ſich ſchon 
bittre Vorwuͤrfe uͤber ſeine Langſam⸗ 
keit, als er ploͤtzlich Verdacht ſchoͤpfte, 
ihr Zuvorkommen ſey nur Taͤuſchung, 
ſie meine es auch mit ihm nicht ehr⸗ 
lich; und da ein Freund ihn vollends 
aufklaͤrte, konnte ihm kein Zweifel 
bleiben. Er ſah, daß man ihn laͤ⸗ 
cherlich finde und mußte ſich geſtehn, 
daß es ganz in der Ordnung ſey. 
Daruͤber gerieth er etwas in Wuth 


141 
und haͤtte leicht Unheil begonnen, 
wenn er dieſe leeren Menſchen, ihre 
kleinen Verhaͤltniſſe und Mißver⸗ 
haͤltniſſe und das ganze Spiel ge 
heimer Abſichten und Ruͤckſichten 
nicht genau beobachtet und alſo 
gruͤndlich verachtet haͤtte. Auch wurde 
er wieder ungewiß und da ſein Arg⸗ 
wohn nun keine Graͤnzen mehr 
kannte, ſo war er gegen ſein eignes 
Mißtrauen mißtrauiſch. Bald ſah 
er den Grund des Übels nur in ſei⸗ 
nem Eigenſinne und uͤbertriebnem 
Zartgefuͤhl und faßte dann neue 
Hoffnung und neues Zutrauen; bald 
ſah er in allem Ungluͤck, was ihn 
in der That abſichtlich zu verfolgen 
ſchien, nur das kuͤnſtliche Werk ihrer 
Rache. Alles ſchwankte, nur das 


142 


ward ihm immer klarer und fefter, 


daß vollendete Narrheit und Dumm⸗ 


heit im Großen das eigentliche Vor⸗ 
recht der Maͤnner ſey, muthwillige 
Bosheit hingegen mit naiver Kälte 
und lachender Gefüͤhlloſigkeit eine 
angebohrne Kunſt der Frauen. Das 
war alles, was er lernte durch ſein 
angeſtrengtes Beſtreben nach Men⸗ 
ſchenkenntniß. Im Einzelnen ver⸗ 
fehlte er immer auf eine ſcharfſinnige 
Art das rechte, weil er uͤberall kuͤnſt⸗ 
liche Abſichten vorausſetzte und tie⸗ 
fen Zuſammenhang, und gar keinen 
Sinn hatte fuͤr das Unbedeutende. 
Dabey wuchs feine Leiden ſchaft zum 
Spiel, deſſen zufaͤllige Verwickelun⸗ 
gen, Sonderbarkeiten und Gluͤcks⸗ 
fälle ihn auf eben die Art intereſ⸗ 


143 


firten, wie wenn er in hoͤhern Ver⸗ 
haͤltniſſen mit ſeinen Leidenſchaften 
und ihren Gegenſtaͤnden aus reiner 
Willkuͤhr ein hohes Spiel wagte oder 
zu wagen glaubte. 

So verwirrte er ſich immer tie— 
fer in die Intriguen einer ſchlechten 
Geſellſchaft und was ihm noch übrig 
blieb von Zeit und Kraft in dem 
Wirbel der Zerftreuungen‘, wandte 
er auf ein Maͤdchen, die er ſo ſehr 
als moͤglich allein zu beſitzen ſtrebte, 
obgleich er ſie unter denen gefunden 
hatte, die beynah oͤffentlich ſind. 
Was ſie ihm ſo intereſſant machte, 
war nicht allein das weshalb ſie all⸗ 
gemein geſucht und gleichſam be⸗ 
ruͤhmt war, ihre ſeltne Gewandtheit 
und unerſchoͤpfliche Mannichfaltigkeit 


* 


144 
in allen verfuͤhreriſchen Kuͤnſten der 
Sinnlichkeit. Ihr naiver Witz uͤber⸗ 
raſchte ihn mehr und reizte ihn am 
meiſten, wie die hellen Funken von 
rohem tuͤchtigem Verſtand, vorzuͤg⸗ 
lich aber ihre entſchiedne Manier 
und ihr konſequentes Betragen. Mit⸗ 
ten im Stande der aͤußerſten Ver⸗ 
derbtheit zeigte ſie eine Art von Cha⸗ 
rakter; ſie war voll von Eigenhei⸗ 
ten und ihr Egoismus nicht im ge⸗ 
meinen Styl. Naͤchſt der Unabhaͤn⸗ 
gigkeit liebte ſie nichts ſo unmaͤßig 
wie das Geld, aber ſie wußte es 
zu brauchen. Dabey war ſie billig 
gegen jeden, der nicht ſehr reich war 
und ſelbſt gegen die andern treuher⸗ 
zig in ihrer Habſucht und ohne 
Raͤnke. Sie ſchien ganz ſorgenlos 
nur 


9 


145 


nur in der Gegenwart zu leben und 
war doch immer auf die Zukunft 
bedacht. Sie ſparte im Kleinen, um 
nach ihrer Art im Großen zu ver⸗ 
ſchwenden und im Überflüffigen das 
Beſte zu haben. Ihr Boudoir war 
einfach und ohne alle gewoͤhnlichen 
Meublen, nur von allen Seiten 
große, koſtbare Spiegel und wo noch 
Raum uͤbrig blieb, einige gute Co⸗ 
pien von den wolluͤſtigſten Gemaͤl⸗ 
den des Correggio und Tizian, des⸗ 
gleichen einige ſchoͤne Originale von 
friſchen, vollen Blumen⸗ und Frucht⸗ 
ſtuͤcken; ſtatt der Lambris die leben⸗ 
digſten und froͤhlichſten Darſtellun⸗ 
gen in Basreliefs aus Gips nach der 
Antike; ſtatt der Stuͤhle aͤchte orien⸗ 


taliſche Teppiche und einige Gruppen 
Lucinde I. K 


146 


aus Marmor in halber Lebensgroͤße: 
ein gieriger Faun, der eine Nymphe, 
die im Fliehen ſchon gefallen iſt, 
eben voͤllig uͤberwinden wird; eine 
Venus, die mit aufgehobenem Ge⸗ 
wande laͤchelnd uͤber den wolluͤſtigen 
Ruͤcken auf die Huͤften ſchaut und 
andre aͤhnliche Darſtellungen. Hier 
ſaß ſie oft auf tuͤrkiſche Sitte Tage 
lang allein und die Haͤnde muͤſſig 
im Schooß, denn ſie verabſcheute 
alle weiblichen Arbeiten. Sie er⸗ 
friſchte ſich nur von Zeit zu Zeit 
mit Wohlgeruͤchen und ließ ſich da⸗ 
bey von ihrem Jockey, einem bild⸗ 
ſchoͤnen Knaben, den ſie ſich in ſei⸗ 
nem vierzehnten Jahre eigends ver⸗ 
führt hatte, Geſchichten, Reiſebe⸗ 
ſchreibungen und Maͤhrchen vorleſen. 


147 
Sie gab wenig darauf Acht, außer 
wenn etwas Laͤcherliches vorkam, oder 
eine allgemeine Bemerkung, die ſie 
auch wahr fand. Denn ſie achtete 
nichts und hatte Sinn fuͤr nichts 
als fuͤr Realitaͤt und fand alle Poeſie 
laͤcherlich. Sie war einmal Schau⸗ 
ſpielerin geweſen, aber nur kurze 
Zeit, und ſie machte ſich gern luſtig 
uͤber ihr Ungeſchick dazu und uͤber 
die Langeweile, die ſie dabey aus⸗ 
geſtanden. Es war eine von ihren 
vielen Eigenheiten, daß fie bey fol- 
chen Gelegenheiten in der dritten Per⸗ 
ſon von ſich ſprach. Auch wenn ſie 
erzaͤhlte, nannte ſie ſich nur Liſette, 
und ſagte oft, wenn ſie ſchreiben 
koͤnnte, wollte ſie ihre eigne Ge⸗ 
ſchichte ſchreiben, aber ſo als ob es 

82 


148 


ein andrer wäre. Für Muſik hatte 
fie gar kein Gefühl, für_die bilden⸗ 
den Kuͤnſte aber jo viel, daß Julius 
oft mit ihr uͤber ſeine Arbeiten und 
Ideen ſprach, und die Skizzen fuͤr 
die beſten hielt, die er unter ihren 
Augen und bey ihrem Geſpraͤch ent⸗ 
worfen hat. Doch ſchaͤtzte ſie an 
Statuen und an Zeichnungen nur 
die lebendige Kraft, und an Gemaͤl⸗ 
den nur den Zauber der Farben, die 
Wahrheit des Fleiſches und allenfalls 
die Taͤuſchung des Lichtes. Sprach 
ihr jemand von Regeln, vom Ideal 
und von der ſogenannten Zeichnung, 
ſo lachte ſie oder hoͤrte nicht zu. 
Selbſt etwas zu verſuchen, ſo viele 
bereitwillige Lehrer ſich auch anboten, 
war ſie viel zu traͤge und verwoͤhnt 


149 


und befand fich zu wohl bey ihrer 
Lebensart. Auch traute fie allen 
Schmeicheleien nicht und blieb feſt 
uͤberzeugt, ſie wuͤrde es mit aller 
Noth und Arbeit in der Kunſt zu 
nichts Ordentlichem bringen. Lobte 
man ihren Geſchmack und ihr Zim⸗ 
mer, in welches fie nur ſelten aus— 
erwaͤhlte Lieblinge fuͤhrte, ſo ruͤhmte 
ſie dagegen auf eine komiſche Weiſe 
zuerſt das gute alte Schickſal, die 
ſchlaue Liſette und dann die Eng⸗ 
laͤnder und Hollaͤnder als die beſten 
Nazionen unter allen, die ſie kenne; 
weil die volle Caſſe einiger Neulinge 
von dieſer Sorte zuerſt einen guten 
Grund zu ihrer reichlichen Einrich— 
tung gelegt hatte. Überhaupt freute 
ſie ſich ſehr damit, wenn ſie jeman⸗ 


150 


rl Ok ehe, 
den, der dumm war, uͤbervortheilt ; 
hatte: aber fie that es auf eine drol⸗ 
lige, faſt kindiſche Art, mit Witz 
und mehr aus Übermuth als aus 
Rohheit. Ihre ganze Klugheit wandte 
ſie darauf ji ſich der Zudringlichkeit 
und Unart der Maͤnner zu erweh⸗ 
ren, und es gelang ihr ſo ſehr, daß 
die rohen, wuͤſten Menſchen mit 
einer innigen Achtung von ihr ſpra⸗ 
chen, die dem, welcher ſie nicht 
kannte und nur von ihrem Gewerbe 
wußte, ſehr komiſch duͤnkte. Das 
war es auch, was den neugierigen 
Julius zuerſt reizte, eine ſo ſonder⸗ 
bare Bekanntſchaft zu ſuchen und er 
fand bald noch mehr Urſach zu er⸗ 
ſtaunen. Bey den gewoͤhnlichen 
Maͤnnern litt und that ſie, was ſie 


| 151 
ſchuldig zu ſeyn glaubte; genau, mit 

Geſchicklichkeit und mit Kunſtſinn, 
aber ganz kalt. Gefiel ihr ein Mann, 
fuͤhrte ſie ihn gar in ihr heiliges Ca⸗ 
binet; ſo ſchien ſie eine ganz neue 
Perſon zu werden. Sie gerieth dann 
in eine ſchoͤne bacchantiſche Wuth; 
wild, ausſchweifend und unerſaͤttlich 
vergaß ſie beynah der Kunſt und 
verfiel in eine hinreißende Anbetung 
der Maͤnnlichkeit. Darum liebte ſie 
Julius, und auch weil fie ihm fo 
ganz ergeben ſchien, ungeachtet ſie 
davon nicht viele Worte machte. Sie 
merkte bald, ob jemand Verſtand 
habe, und wo ſie den zu finden 
glaubte, ward ſie offen und herzlich, 
und ließ ſich dann gern von ihrem 
Freunde erzaͤhlen, was er von der 


| 152. 


Welt wußte. Mancher hatte ſie N 
lehrt, keiner aber hatte ihr innerſtes 
Weſen jo verſtanden, jo fein ge 
ſchont und ihren eigentlichen Werth 
ſo geachtet wie Julius. Darum hing 
ſie auch mehr an ihm als ſich ſagen 
laͤßt. Sie erinnerte ſich vielleicht 
zum erſtenmal mit Ruͤhrung an ihre 
erſte Jugend und Unſchuld und gefiel 
ſich nicht in der Umgebung, mit der 
ſie ſonſt ganz zufrieden war. Julius 
fuͤhlte das und freute ſich damit, 
aber er konnte nie über die Gering⸗ 
ſchaͤtzuüng Herr werden, die ihm ihr 
Stand und ihr Verderben einfloͤßte, 
und ſein unausloͤſchliches Mistrauen 
ſchien ihm hier gerecht zu ſeyn. Wie 
entruͤſtet war er daher, als ſie ihm 
einſt unerwarteter Weiſe die Ehre 


153 
der Vaterſchaft aft ankuͤndigte. Und er 
wußte es doch „daß ſie trotz ihres 
Verſprechens noch vor kurzem Be— 
ſuche von einem andern angenom⸗ 
men hatte. Das Verſprechen konnte 
ſie ihm nicht abſchlagen. Sie ſelbſt 
hätte es wahrſcheinlich gern gehal— 
ten, aber ſie brauchte mehr als er 
geben konnte; ſie wußte nur eine 
Art, Geld zu erwerben, und aus 
einer Delikateſſe, die ſie einzig fuͤr 
ihn hatte, nahm ſie nur das we— 
nigſte von dem, was er geben wollte. 
Alles das bedachte der aufgebrachte 
Juͤngling nicht, er hielt ſich für be⸗ 
trogen, er ſagte es ihr mit harten 
Worten und verließ ſie in dem lei⸗ 
denſchaftlichſten Zuſtande, wie er 
glaubte, auf immer. Nicht lange 


154 

nachher ſuchte ihn der Knabe mit 
Thraͤnen und Klagen und ließ nicht 
ab, bis er mit ihm ging. Er fand 
ſie faſt entkleidet in dem ſchon dun⸗ 
keln Cabinet, er ſank in die gelieb⸗ 
ten Arme, mit denen ſie ihn ſo hef⸗ 
tig an ſich riß wie ſonſt, aber ſie 
ſanken ſogleich an ihm nieder. Er 
hoͤrte einen tiefen ſtoͤhnenden Seuf⸗ 
zer, es war der letzte; und da er 
ſich anſah, war er mit Blut bedeckt. 
Voll Entſetzen ſprang er auf und 
wollte fliehen. Er verweilte nur, 
um eine große Locke zu ergreifen, 
die neben dem gefaͤrbten Meſſer auf 
dem Boden lag. Sie hatte dieſelbe 
in einem Anfalle von begeiſterter 
Verzweiflung kurz zuvor, ehe ſie ſich 
die vielen Wunden gab, von denen 


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155 
die meiſten toͤdtlich waren, abge 
ſchnitten. Wahrſcheinlich mit dem 
Gedanken, ſich dadurch dem Tode 
und dem Verderben als Opfer zu 
weihen. Denn nach der Ausſage 
des Knaben ſprach ſie dabey mit 
lauter Stimme die Worte: »Liſette 
»ſoll zu Grunde gehn, zu Grunde 
»jetzt gleich: ſo will es das Schick— 
»ſal, das eiſerne.« 

Der Eindruck, den dieſe über: 
raſchende Tragoͤdie auf den reizbaren 
Juͤngling machte, war unauslöfch- 
lich, und brannte durch ſeine eigne 
Kraft immer tiefer. Die erſte Folge 
von Liſettens Ruin war, daß er ihr 
Andenken mit ſchwaͤrmeriſcher Ach— 
tung vergoͤtterte. Er verglich ihre 
hohe Energie mit den nichtswuͤrdigen 


156 


Intriguen der Dame, die ihn ver- 
ſtrickt hatte „und fein Gefühl mußte 
laut entſcheiden, daß jene ſittlicher 
und weiblicher ſey: denn dieſe Co⸗ 
quette gab nie eine kleine oder große 
Gunſt ohne Nebenabſicht; und doch 
ward ſie von aller Welt geachtet 
und bewundert, wie ſo viele andre, 
die ihr gleichen. Daruͤber wider⸗ 
ſetzte ſich ſein Verſtand mit Heftig⸗ 
keit allen falſchen und allen wahren 
Meinungen, die man uͤber die weib⸗ 
liche Tugend hat. Es ward Grund⸗ 
ſatz bey ihm, die geſellſchaftlichen 
Vorurtheile, welche er bisher nur 
vernachlaͤſſigte, nun ausdruͤcklich zu 
verachten. Er gedachte an die zarte 
Louiſe, die beynah ein Raub ſeiner 
Verfuͤhrung geworden waͤre und er 


. EN >. 


157 
erſchrack. Denn auch Liſette war 
von guter Familie, fruͤh gefallen, 
entführt und in der Fremde verlaſ— 
ſen, zu ſtolz geweſen umzukehren, 
und durch die erſte Erfahrung ſo 
belehrt wie andre nicht durch die 
letzte. Mit ſchmerzlichem Vergnuͤgen 
ſammelte er manchen intereſſanten 
Zug von ihrer fruͤhen Jugend. Sie 
war damals mehr ſchwermuͤthig als 
leichtſinnig, aber in der Tiefe ganz 
Flamme und ſchon als kleines Maͤd⸗ 
chen traf man ſie bey Gemaͤlden 
von nackten Geſtalten oder bey an⸗ 
dern Gelegenheiten in ſonderbaren 
Außerungen der heftigſten Sinn⸗ 
lichkeit. 

Dieſe Ausnahme von dem, was 
Julius fuͤr gewoͤhnlich hielt beym 


158 


weiblichen Geſchlecht, war zu einzig 
und die Umgebung, in der er ſie 
fand, zu unrein, als daß er da⸗ 
durch zu einer wahren Anficht hätte 
gelangen koͤnnen. Vielmehr trieb 
ihn ſein Gefuͤhl, ſich faſt ganz von 
den Frauen und von den Geſell⸗ 
zuruͤck zu ziehen. Er fuͤrchtete ſeine 
Leidenſchaftlichkeit und warf ſeinen 
ganzen Sinn auf die Freundſchaft 
mit Juͤnglingen, die wie er der Be⸗ 
geiſterung faͤhig waren. Dieſen er⸗ 
gab er ſein Herz, nur ſie waren 
fuͤr ihn wahrhaft wirklich, die uͤbrige 
Menge gemeiner Schattenweſen freute 
er ſich zu verachten. Mit Leiden⸗ 
ſchaft und mit Spitzfindigkeit ſtritt 
er innerlich und gruͤbelte uͤber ſeine 


159 
Freunde, über ihre verſchiedenen 
Vorzuͤge und Verhaͤltniſſe zu ihm. 
Er erhitzte ſich in ſeinen eigenen 
Gedanken und Geſpraͤchen und war 
berauſcht von Stolz und von Maͤnn⸗ 
lichkeit. Auch gluͤhten ſie alle von 
edler Liebe, unentwickelt ſchlummerte 
hier manche große Kraft, und ſie 
ſagten nicht ſelten in rohen aber 
treffenden Worten erhabene Dinge 
uͤber die Wunder der Kunſt, uͤber 
den Werth des Lebens und uͤber 
das Weſen der Tugend und Selbſt⸗ 
ſtaͤndigkeit. Vorzuͤglich aber uͤber 
die Goͤttlichkeit der männlichen Freund— 
ſchaft, die Julius zum eigentlichen 
Geſchaͤft ſeines Lebens zu machen 
geſonnen war. Er hatte viele Ver⸗ 
bindungen, und war unerfättlich 


160 


immer neue zu knuͤpfen. Jeden 
Mann, der ihm intereſſant erſchien, 
ſuchte er, und ruhte nicht, bis er 
ihn gewonnen und die Zuruͤckhal⸗ 
tung des andern durch ſeine jugend⸗ 
liche Zudringlichkeit und Zuverſicht 
beſiegt hatte. Es laͤßt ſich denken, 
daß er, der ſich eigentlich alles er⸗ 
laubt hielt und ſich ſelbſt uͤber das 
Laͤcherliche wegſetzen konnte, eine 
andre Schicklichkeit im Sinne und 
vor Augen hatte als die, welche all⸗ 
gemein gilt. 
des einen Freundes fand er mehr 
als weibliche Schonung und Zartheit 
bey erhabenem Verſtande und feſt 
gebildetem Charakter. Ein zweyter 
brannte mit ihm in edlem Unwillen 
über 


161 


über das ſchlechte Zeitalter und wollte 
etwas Großes wirken. Der liebens⸗ 
wuͤrdige Geiſt des dritten war noch 
ein Chaos von Andeutungen: aber 
er hatte zarten Sinn fuͤr alles und 
ahndete die Welt. Den einen ver⸗ 
ehrte er als ſeinen Meiſter in der 
Kunſt würdig zu leben. Den an: 
dern dachte er als ſeinen Juͤnger 
und wollte ſich nur vor der Hand 
zur Theilnahme an ſeinen Ausſchwei⸗ 
fungen herablaſſen, um ihn ganz 
zu kennen und zu gewinnen, und 
dann ſeine große Anlage zu retten, 
die ſo nah am Abgrunde wandelte 
wie ſeine eigne. 

Es waren große Gegenſtaͤnde, 
nach denen ſie mit Ernſt ſtrebten. 


Indeſſen blieb es bey hohen Worten 
Lucinde I. L 


162 


und vortrefflichen Wuͤnſchen. Julius 
kam nicht weiter und ward nicht 
klarer, er handelte nicht und er bil⸗ 
dete nichts. Ja er vernachlaͤßigte 
ſeine Kunſt faſt nie mehr, als da 
er ſich und feine Freunde mit Pros 
jekten uͤberſtroͤmte von allen Wer⸗ 
ken, die er vollbringen wollte, und 
die ihm im Augenblick der erſten 
Begeiſterung ſchon fertig ſchienen. 
Die wenigen Anwandlungen von 
Nuͤchternheit, die ihm noch uͤbrig 
blieben, erſtickte er in Muſik, die 
fuͤr ihn ein gefaͤhrlicher, bodenloſer 
Abgrund von Sehnſucht und Weh⸗ 
muth war, in den er ſich gern und 
willig verſinken ſah. 

Di.ieſe innere Gaͤhrung haͤtte heil⸗ 
ſam ſeyn koͤnnen, und aus der Ver⸗ 


163 


zweiflung wäre endlich Ruhe und 
Feſtigkeit hervorgegangen, und er 
waͤre klar geworden uͤber ſich ſelbſt. 
Aber die Wuth der Unbefriedigung 
zerſtuͤckte ſeine Erinnerung, er hatte 
nie weniger eine Anſicht vom Gan⸗ 
zen ſeines Ich. Er lebte nur in der 
Gegenwart, an der er mit durſtigen 
Lippen hing, und vertiefte ſich ohne 
Ende in jeden unendlich kleinen und 
doch unergruͤndlichen Theil der un⸗ 
geheuren Zeit, als muͤſſe es nun in 
dieſem endlich zu finden ſeyn, was 
er ſchon ſo lange ſuche. Dieſe Wuth 
der Unbefriedigung mußte ihn bald 
mit ſeinen Freunden ſelbſt verſtim⸗ 
men und entzweyen, von denen die 
meiſten bey den herrlichſten Anlagen 
eben ſo unthaͤtig und mit ſich uneins 
L 2 


164 


waren wie er. Dieſer ſchien ihn 
nicht zu verſtehn, jener bewunderte 
nur ſeinen Geiſt, aͤußerte aber Miß⸗ 
trauen gegen ſein Herz und that 
ihm wirklich Unrecht. Da hielt er 
ſeine innerſte Ehre gekraͤnkt und 
fuͤhlte ſich von geheimem Haß zerriſ⸗ 
ſen. Er uͤberließ ſich dieſem Gefuͤhl 
ohne Scheu, denn er glaubte, nur 
wen man achten muͤſſe, duͤrfe man 
haſſen, und nur Freunde koͤnnten 
einer dem andern das zarteſte Ge⸗ 
fuͤhl ſo tief verletzen. Der eine 
Juͤngling war durch eigne Schuld 
zu Grunde gegangen; der andre 
fing gar an ſelbſt gewöhnlich zu 
werden. Mit einem dritten war 
ſein Verhaͤltniß serien und faft 
gemein geworden. Es war ganz 


165 


geiftig geweſen, und fo hätte es auch 
bleiben Sollen. Aber eben weil es 
ſo zart war, mußte mit der feinſten 
Bluͤthe alles verloren gehn, als die 
Gelegenheit es gab, daß einer dem 
andern Dienſte leiſtete. Da geriethen 
ſie in Wettſtreite von Großmuth und 
Dankbarkeit und fingen endlich an, 
in der geheimften Tiefe, der Seele 
irrdiſche Foderungen an ſich zu ma⸗ 
chen und zu vergleichen. 

Bald hatte der Zufall ohne Scho⸗ 
nung aufgeld t, was nur durch 
Willkühr I denſchaftlich verbunden 
war. Immer mehr und mehr ge 
rieth Julius in einen Zuſtand, der 
von der Verruͤckung nur dadurch 
verſchieden war, daß es einigermaßen 
auf ihn ankam, wann und wie weit 


166 | rg 4 lack ct 

er ſich ſeiner 1 e wollte. 
Auch war ſein aͤußeres Betragen 
jeder buͤrgerlichen und geſellſchaftli⸗ 
chen Ordnung gemaͤß, und grade 
jetzt fingen die Menſchen an, ihn 
vernuͤnftig zu nennen, da eine Ver⸗ 
wirrung aller Schmerzen ſein Innres 
wild zerriß und die Krankheit des 
Geiſtes immer tiefer und geheimer 
an dem Herzen nagte. Es war 
mehr eine Raſerey des Gefuͤhls als 

— e 

des Verſtandes, und das Übel war 
nur um ſo gefaͤhrlicher, weil er 
aͤußerlich froh und luſtig ſchien. So 
war ſeine gewoͤhnliche Stimmung, 
und man fand ihn ſogar angenehm. 
Nur wenn er mehr Wein genoſſen 
hatte als gewoͤhnlich, ward er uͤber⸗ 
aus traurig und zu Thraͤnen und 


167 
Klagen geneigt. Aber jelbit dann 
ſprudelte er, wenn andre zugegen 
waren, von bitterm Witz und allge⸗ 
meinem Spott, oder er trieb ſein 
Spiel mit ſonderbaren und dummen 
Menſchen, deren Umgang er nun 
uͤber alles liebte, und die er in die 
beſte Laune zu ſetzen wußte, ſo daß 
ſie ſich von Herzen mittheilten und 
ganz zeigten, wie ſie waren. Das Ge⸗ 
meine reizte und unterhielt ihn; nicht 
aus liebenswuͤrdiger Herablaſſung, 
ſondern weil es nach ſeiner Anſicht 
naͤrriſch und toll war. 

An ſich ſelbſt dachte er nicht, 
nur dann und wann uͤberfiel ihn 
ein klares Gefuͤhl, er werde ploͤtzlich 
zu Grunde gehn. Die Reue unter⸗ 
druͤckte er durch Stolz, und die Ge⸗ 


kr 


168 


danken und Bilder des Selbſtmordes 


waren ihm ſchon in ſeiner fruͤhſten 
jugendlichen Schwermuth ſo gelaͤufig 


geweſen, daß ſie den Reiz der Neu⸗ 


heit fuͤr ihn verloren hatten. Einen 
ſolchen Entſchluß auszufuͤhren, waͤre 
er ſehr faͤhig geweſen, wenn er nur 
uͤberhaupt zu einem Entſchluß hätte 
kommen koͤnnen. Es ſchien ihm 


kaum der Muͤhe werth, weil er doch 
nicht hoffen wollte, der Langeweile 
des Daſeyns und dem Eckel uͤber 
das Schickſal auf dieſem Wege zu 
entfliehn. Er verachtete die Welt 
und alles, und war ſtolz darauf. 
Auch dieſe Krankheit wie alle vo- 
rigen heilte und vernichtete der erſte 
Anblick einer Frau, die einzig war, 
und die ſeinen Geiſt zum erſtenmal 


Dr BEZ uch au >... Be? 


169 


ganz und in der Mitte traf. Seine 
bisherigen Leidenſchaften ſpielten nur 
auf der Oberflaͤche, oder es waren 
vorübergehende Zuſtaͤnde ohne Zus 
ſammenhang. Jetzt ergriff ihn ein 
neues unbekanntes Gefuͤhl, daß die⸗ 
ſer Gegenſtand allein der rechte, und 
dieſer Eindruck ewig ſey. Der erſte 
Blick ſchon entſchied, beym zweyten 
wußte er's, und ſagte ſich's, daß 
es nun gekommen, und wirklich da 
ſey, was er ſo lange dunkel erwar⸗ 
tet hatte. Er erſtaunte, und er: 
ſchrack, denn wie er dachte, daß es 
ſein hoͤchſtes Gut ſeyn wuͤrde, von 
ihr geliebt zu werden und ſie ewig 
zu beſitzen, ſo fuͤhlte er zugleich, daß 
dieſer hoͤchſte und einzige Wunſch 
ewig unerreichbar ſey. Sie hatte 


170 


gewaͤhlt und hatte ſich gegeben; ihr 
Freund war auch der ſeinige, und 
lebte ihrer Liebe wuͤrdig. Julius 
war der Vertraute, er wußte daher 
alles genau, was ihn unglüdlich 
machte, und urtheilte mit Strenge 
uͤber ſeinen eignen Unwerth. Gegen 
dieſen wandte ſich die ganze Kraft 
ſeiner Leidenſchaft. Er entſagte der 
Hoffnung und dem Gluͤck, aber er 
beſchloß, es zu verdienen, und Herr 
uͤber ſich ſelbſt zu werden. Nichts 
verabſcheute er ſo ſehr, als den Ge⸗ 
danken, das Geringſte von dem, was 
ihn erfuͤllte, auch nur durch ein un⸗ 
deutliches Wort, durch einen verſtohl⸗ 
nen Seufzer zu verrathen. Gewiß 
waͤre auch jede Außerung widerſinnig 
geweſen, und da er ſo heftig, ſie ſo 


171 
fein, und das Verhaͤltniß fo zart 
war, hätte ein einziger Wink, von 
denen, die unwillkuͤhrlich ſcheinen 
und doch bemerkt ſeyn wollen, im— 
mer weiter fuͤhren und alles ver— 
wirren muͤſſen. Darum draͤngte er 
alle Liebe in ſein Innerſtes zuruͤck, 
und ließ da die Leidenſchaft wuͤthen, 
brennen und zehren; aber ſein Auſ⸗ 
ſeres war durchaus verwandelt, und 
ſo gut gelang ihm der Schein der 
kindlichſten Unbefangenheit und Un: 
erfahrenheit und einer gewißen bruͤ— 
derlichen Haͤrte, die er annahm, da⸗ 
mit er nicht aus dem Schmeichel— 
haften ins Zaͤrtliche fallen moͤchte, 
daß ſie nie den leiſeſten Argwohn 
ſchoͤpfte. Sie war heiter und leicht 
in ihrem Gluͤck, ſie ahndete nichts, 


172 


ſcheute alſo nichts, ſondern ließ ih⸗ 
rem Witz und ihrer Laune freyes 
Spiel, wenn ſie ihn unliebenswuͤr⸗ 
dig fand. uͤberhaupt lag in ihrem 
Weſen jede Hoheit und jede Zierlich⸗ 
keit, die der weiblichen Natur eigen 
ſeyn kann, jede Gottaͤhnlichkeit, und 
jede Unart, aber alles war fein, ge⸗ 
bildet, und weiblich. Frey und 
kraͤftig entwickelte und aͤußerte ſich 
jede einzelne Eigenheit, als ſey ſie 
nur fuͤr ſich allein da, und dennoch 
war die reiche, kuͤhne Miſchung ſo 
ungleicher Dinge im Ganzen nicht 
verworren, denn ein Geiſt beſeelte 
es, ein lebendiger Hauch von Har⸗ 
monie und Liebe. Sie konnte in 
derſelben Stunde irgend eine komiſche 


Albernheit mit dem Muthwillen und 


173 
der Feinheit einer gebildeten Schau: 
ſpielerin nachahmen, und ein erha-⸗ 
benes Gedicht vorleſen mit der hin⸗ 
reißenden Wuͤrde eines kunſtloſen 
Geſanges. Bald wollte ſie in Ge⸗ 
ſellſchaft glaͤnzen und taͤndeln, bald 
war ſie ganz Begeiſterung, und 
bald half ſie mit Rath und That, 
ernſt, beſcheiden und freundlich wie 
eine zaͤrtliche Mutter. Eine geringe 
Begebenheit ward durch ihre Art ſie 
zu erzählen fo reizend wie ein ſchoͤ⸗ 
nes Maͤhrchen. Alles umgab ſie 
mit Gefuͤhl und mit Witz, ſie hatte 
Sinn fuͤr alles, und alles kam ver⸗ 
edelt aus ihrer bildenden Hand und 
von ihren ſuͤß redenden Lippen. 
Nichts Gutes und Großes war zu 
heilig oder zu allgemein fuͤr ihre 


174 

leidenſchaftlichſte Theilnahme. Sie 
vernahm jede Andeutung, und ſie 
erwiederte auch die Frage, welche 
nicht geſagt war. Es war nicht 
moͤglich, Reden mit ihr zu halten; 
es wurden von ſelbſt Geſpraͤche, und 
waͤhrend dem ſteigenden Intereſſe 
ſpielte auf ihrem feinen Geſichte eine 
immer neue Muſik von geiſtvollen 
Blicken und lieblichen Mienen. Die⸗ 
ſelben glaubte man zu ſehen, wie 
ſie ſich bey dieſer oder bey jener 
Stelle veraͤnderten, wenn man ihre 
Briefe las, ſo durchſichtig und ſee⸗ 
lenvoll ſchrieb ſie, was ſie als Ge⸗ 
ſpraͤch gedacht hatte. Wer ſie nur 
von dieſer Seite kannte, haͤtte den⸗ 
ken koͤnnen, ſie ſey nur liebenswuͤr⸗ 
dig, ſie wuͤrde als Schauſpielerin 


175 
bezaubern muͤſſen, und ihren geflü- 
gelten Worten fehle nur Maaß und 
Reim, um zarte Poeſie zu werden. 
Und doch zeigte eben dieſe Frau bey 
jeder großen Gelegenheit Muth und 
Kraft zum Erſtaunen „und das war 
auch der hohe Geſichtspunkt, aus 
dem ſie den Werth der Menſchen 
beurtheilte. 

Dieſe Groͤße der Seele war die 
Seite, von der Julius im Anfange 
ſeiner Leidenſchaft ihr Weſen am 
meiſten ergriff, weil dieſe zu dem 
Ernſt derſelben am beſten ſtimmte. 
Sein ganzes Weſen war gleichſam 
von der Oberflaͤche zuruͤckgetreten 
nach dem Innern; er verſank in 
eine allgemeine Verſchloſſenheit und 
floh den Umgang der Menſchen. 


112 
IE 
39 


een feſter Mittelpunkt und Boden 


176 


Rauhe Felſen waren feine liebſte 


Geſellſchaft, am Geſtade des einſa⸗ 


men Meeres hing er ſeinen Gedan⸗ 
ken nach, und ging zu Rathe mit 
ſich ſelbſt, und wenn das Sauſen 
des Windes in den hohen Tannen 
rauſchte, ſo waͤhnte er, die maͤchti⸗ 
gen Wogen tief unter ihm wollten 
ſich aus Theilnahme und Mitleiden 
ihm naͤhern, und ſchwermuͤthig blickte 
er den fernen Schiffen nach und 
der ſinkenden Sonne. Dieſer Ort 
war ſein Liebling, er ward ihm 
durch die Erinnerung zu einer hei⸗ 
ligen Heimath aller Schmerzen und 
Entſchluͤſſe. 

Die Vergoͤtterung ſeiner erhabe⸗ 
nen Freundin wurde fuͤr ſeinen Geiſt 


einer 


177 
einer neuen Welt. Hier ſchwanden 
alle Zweifel, in dieſem wirklichen 
Gute fuͤhlte er den Werth des Le⸗ 
bens und ahndete die Allmacht des 
Willens. Er ſtand in Wahrheit auf 
friſchem Gruͤn einer kraͤftigen muͤt⸗ 
terlichen Erde, und ein neuer Him⸗ 
mel woͤlbte ſich unermeßlich uͤber 
ihm im blauen Ather. Er erkannte 
in ſich den hohen Beruf zur goͤtt⸗ 
lichen Kunſt, er ſchalt ſeine Traͤg⸗ 
heit, daß er noch ſo weit zuruͤck ſey 
in der Bildung und zu weichlich ge= 
weſen war zu jeder gewaltigen An— 
ſtrengung. Er ließ ſich nicht in 
muͤſſige Verzweiflung ſinken, ſondern 
er folgte der weckenden Stimme je⸗ 
ner heiligen Pflicht: Alle Mittel, die 


ihm die Verſchwendung noch gelaſſen 
Lucinde J. DV 


— 


178 

hatte, ſpannte er nun an. Er zer⸗ 
riß alle Bande von Ehedem, und 
machte ſich mit einem Streich ganz 
unabhaͤngig. Seine Kraft und ſeine 
Jugend weihte er der erhabenen 
kuͤnſtleriſchen Arbeit und Begeiſterung. 
Er vergaß ſein Zeitalter und bildete 
ſich nach den Helden der Vorwelt, 
deren Ruinen er mit Anbetung liebte. 


Auch fuͤr ihn ſelbſt gab es keine Ge⸗ 


. 


genwart, denn er lebte nur in der 
Zukunft und in der Hoffnung, der⸗ 
einſt ein ewiges Werk zu vollenden 
zum Denkmal ſeiner Tugend und 
ſeiner Wuͤrde. | 

So litt und lebte er viele Jahre, 
und wer ihn ſah, hielt ihn fuͤr aͤlter 
als er war. Was er bildete, war 
groß gedacht und in altem Styl, 


er 


2 . 
— — * — er 
UT a TE DEE, 


u * ut u 8 2 — 
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F Bi 


2 


aa 179 
aber der Ernft war abſchreckend, die 
Formen fielen ins ungeheure 5 das 
Antike ward ihm zu einer harten 
Manier, und ſeine Gemaͤlde blieben 
bey aller Gruͤndlichkeit und Einſicht 
ſteif und ſteinern. Es war vieles 
zu loben, nur die Anmuth fehlte; 
und darin glich er ſeinen Werken. 
Sein Charakter war rein gebrannt 
im Leiden göttlicher Liebe und glaͤnzte 
in heller Kraft, aber er war ſproͤde 
und ſtarr wie aͤchter Stahl. Er war 
aus Kaͤlte ruhig, und nur dann ge⸗ 
rieth er in Aufruhr, wenn ihn eine 
hohe Wildniß der einſamen Natur 
mehr als gewoͤhnlich reizte, wenn er 
feiner entfernten Freundin treuen Be— 
richt gab von dem Kampf ſeiner 
Bildung und dem Ziel aller Arbeit, 

M 


180 


oder wenn ihn die Begeiſterung für 
die Kunſt in Gegenwart andrer uͤber⸗ 
raſchte, daß nach langem Schweigen 
einige geflügelte Worte aus feinem 
innerſten Gemuͤth brachen. Doch 
das geſchah nur ſelten, denn er nahm 
ſo wenig Antheil an den Menſchen 
als an ſich ſelbſt. Über ihr Gluͤck 
und ihr Beginnen konnte er nur 
freundlich laͤcheln und er glaubte es 
ihnen aufs Wort, wenn er bemerkte, 
wie ſie ihn unliebend und unliebens⸗ 
wuͤrdig fanden. 

Doch ſchien ihn eine edle 2 
etwas zu bemerken und vorzuziehn. 
Ihr feiner Geiſt und ihr zartes Ge⸗ 
fuͤhl zogen ihn lebhaft an, da ſie noch 
durch den Reiz einer liebenswuͤrdigen 
und dabey ſonderbaren Geſtalt und 


PVC 


. 


e 


181 


durch ein Auge voll ſtiller Schwer⸗ 
muth erhoͤht wurden. Aber ſo oft 
er herzlicher werden wollte, ergriff 
ihn das alte e Mißtrauen und die ge⸗ 
wohnte Kalte. Er ſah ſie haͤufig 
und konnte ſich nie aͤußern, bis auch 
dieſer Strom von Gefuͤhl zuruͤckfloß 
in das innere Meer allgemeiner Be⸗ 
geiſterung. Selbſt die Gebieterin des 
Herzens trat in ein heiliges Dunkel 
zuruͤck, und wuͤrde ihm fern geblie⸗ 
ben ſeyn, wenn er ſie wiedergeſehn 
haͤtte. 

Das einzige, was ihn milder und 
waͤrmer ſtimmte, war der Umgang 
mit einer andern Frau, die er als 


Schweſter ehrte und liebte, und die 
er auch ganz ſo betrachtete. Er ſtand 
ſchon laͤnger in buͤrgerlichen Ver⸗ 


182 


haͤltniſſen mit ihr, fie war kraͤnklich 
und etwas aͤlter wie er; dabey aber 
von hellem reifem Verſtand, von 
gradem geſundem Sinn, und ſelbſt 
im Auge der Fremden bis zur Lie⸗ 
benswuͤrdigkeit rechtlich. Alles was 
ſie unternahm, athmete den Geiſt 
freundlicher Ordnung, und wie von 
ſelbſt entwickelte ſich die gegenwaͤr⸗ 
tige Thaͤtigkeit allmaͤhlig aus der 
vorigen und bezog ſich ſtill auf die 
kuͤnftige. In dieſer Anſchauung be⸗ 
griff es Julius klar, daß es keine 
andre Tugend gebe als Conſequenz. 
Aber es war nicht die kalte ſteife 
uͤbereinſtimmung berechneter Grund⸗ 
ſaͤtze oder Vorurtheile, ſondern die 
beharrliche Treue eines muͤtterlichen 
Herzens, das den Kreis ſeiner Wirk⸗ 


183 


ſamkeit und feiner Liebe mit befcheid- 
ner Kraft erweitert und in ſich ſelbſt 
vollendet, und die rohen Dinge der 
umgebenden Welt zu einem freund— 
lichen Eigenthum und Werkzeug des 
geſelligen Lebens bildet. Dabey war 
ihr jede Beſchraͤnktheit haͤuslicher 


Frauen fremd, und mit tiefer Scho- 
nung und gefuͤhlter Milde ſprach 
ſie uͤber die herrſchenden Meinungen 
der Menſchen, und über die Ausnah- 


men und Ausſchweifungen derer, die 
gegen den Strom leben: denn ihr 
Verſtand war ſo unbeſtechlich als 
ihr Gefühl rein und unverfaͤlſcht. 
Sie ſprach uͤberhaupt gern, vorzuͤg⸗ 
lich uͤber ſittliche Gegenſtaͤnde, wo 
ſie den Streit oft ins Allgemeine 
ſpielte und auch wohl an Spitzfindig⸗ 


—— end Dr 


184 


keiten Gefallen hatte, wenn fie et⸗ 
was zu enthalten ſchienen und ſinn⸗ 
reich klangen. Sie war nicht ſpar⸗ 
ſam mit Worten und ihr Geſpraͤch 
ward durch keine aͤngſtliche Ordnung 
gelenkt. Es war eine reizende Ver⸗ 
wirrung von einzelnen Einfaͤllen und 


allgemeiner Theilnahme, von fort⸗ 


geſetzter Aufmerkſamkeit und ploͤtzli⸗ 
cher Zerſtreuung. 

Die Natur belohnte endlich die 
muͤtterliche Tugend der vortrefflichen 


Frau und es keimte, da ſie es kaum 
hoffte, ein neues Leben unter ihrem 


treuen Herzen. Das erfuͤllte den 
Juͤngling, der ſo ſehr an ihr hing 


und an ihrem haͤuslichen Gluͤcke den 


waͤrmſten Antheil nahm, mit leb⸗ 
hafter Freude: aber es regte vieles 


u 


185 


in ihm an, was lange geſchwiegen 
hatte. 

Da nun einige ſeiner kuͤnſtleri⸗ 
ſchen Verſuche auch in ſeiner Bruſt 
ein neues Zutrauen weckten, und 
ihn der erſte Beyfall großer Meiſter 
aufmunterte; da ihn die Kunſt an 
neue ſehenswuͤrdige Orte und unter 
fremde froͤhliche Menſchen fuͤhrte: 
ſo erweichte ſich ſein Gefuͤhl 
und floß maͤchtig, wie ein großer 
Strom, wenn das Eis ſchmilzt und 
bricht, und die Wogen mit neuer 
Kraft ſich durch die alte Bahn reißen. 

Er war verwundert, ſich wieder 
ausgelaſſen und fröhlich in der Ge⸗ 
ſellſchaft der Menſchen zu fuͤhlen. 
Seine Denkart war maͤnnlich und 
rauh, aber ſein Herz in der Ein⸗ 


P 


186 


ſamkeit wieder kindlich und ſchuͤch⸗ 
tern geworden. Er ſehnte ſich nach 
einer Heimath und dachte an eine 
ſchoͤne Ehe, die mit den Foderungen 
der Kunſt nicht ſtreiten ſollte. War 
er dann unter der Bluͤthe junger 
Maͤdchen, ſo fand er leicht eine oder 
mehrere von ihnen liebenswuͤrdig. 
Heyrathen, meinte er, wolle er ſie 
gleich, wenn er ſie ſchon nicht lie⸗ 
ben koͤnne. Denn der Begriff und 
ſelbſt der Namen der Liebe war ihm 
uͤberheilig und blieb ganz in der 
Ferne. Bey ſolchen Gelegenheiten 
laͤchelte er dann uͤber die ſcheinbare 
Beſchraͤnktheit ſeiner augenblicklichen 
Wuͤnſche und fuͤhlte wohl, wie un⸗ 
ermeßlich viel ihm noch fehlen moͤchte, 
wenn ſie durch einen Zauberſchlag 


u 


8 


187 


ſogleich erfüllt würden. Ein ande⸗ 
resmal lachte er lauter uͤber ſeine 
alte Heftigkeit nach ſo langem Ent⸗ 
halten, da ihm eine ſchnelle Gele— 
genheit einen friſchen Genuß anbot 
und fein Gemuͤth durch einen Ro- 
man, der in wenigen Minuten ans 
gefangen, vollendet und beſchloſſen 
war, wenigſtens von einigem Brenn⸗ 
ſtoff befreyte und erleichterte. 

Einem ſehr gebildeten Maͤdchen 
gefiel er, weil er ihr ſeelenvolles 
Geſpraͤch und ihren ſchoͤnen Geiſt 
mit ſichtbarer Innigkeit bewunderte, 
und ihr, ohne eine Schmeicheley aus— 
zuſprechen, bloß durch die Art ſeines 
Umgangs huldigte, ſo gut, daß ſie 
ihm nach und nach alles erlaubte, 
außer das letzte. Und ſelbſt dieſe 


188 


Graͤnze fette fie ihm nicht aus Kälte, 

noch aus Vorſicht und Grundſatz: 

denn ſie war reizbar genug, ſie hatte 

eine ſtarke Anlage zum Leichtſinn 

und lebte in den freyſten Verhaͤlt⸗ 
niſſen. Es war weiblicher Stolz und 
Scheu vor dem, was ſie fuͤr thieriſch 
und roh hielt. So wenig nun ein 
ſolches Beginnen ohne Vollendung 
nach Julius Sinne war, und ob⸗ 
gleich er über die kleine Einbildung 
des Mädchens laͤcheln mußte, wenn 
er bey dieſem verkehrten und ver⸗ 
kuͤnſtelten Weſen an das Schaffen 
| und Wirken der allmächtigen Natur, 
an ihre ewigen Geſetze, an die Hoheit 
und Groͤße der Mutterwuͤrde, und 
an die Schoͤnheit des Mannes dachte, 
den in der Fuͤlle der Geſundheit und 


1 2 er 
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189 


Liebe die Begeiſterung des Lebens 
ergreift, oder des Weibes, das ſich 
ihr hingiebt: ſo freute er ſich doch 
bey dieſer Gelegenheit zu ſehn, daß | 
er den Sinn für zarten und feinen 
Genuß noch nicht verloren habe. 
Bald aber vergaß er dieſe und 
andre aͤhnliche Kleinigkeiten, da er 
eine junge Kuͤnſtlerin traf, welche 
das Schoͤne gleich ihm leidenſchaft⸗ 
lich verehrte, die Einſamkeit und 
Natur eben ſo zu lieben ſchien. In 
ihren Landſchaften ſah und fuͤhlte 
man den lebendigen Hauch wahrer 
Luft, es war immer ein ganzer 


— 
— 


Blick. Die Umriſſe waren zu un⸗ 
beſtimmt, und zwar auf eine ſolche 
Weiſe, daß ſie den Mangel einer 
gruͤndlichen Schule verriethen. Aber 


190 

alle die Maſſen ſtimmten zuſammen 
zu einer Einheit für das Gefühl, 
die ſo klar und deutlich war, als 
ſey es unmoͤglich, etwas anderes 
dabey zu fuͤhlen. Sie trieb die Ma⸗ 
lerey nicht wie ein Gelderbe oder 
eine Kunſt, ſondern bloß aus Luſt 
und Liebe, und warf jede Anſicht, 
ſowie auf ihren Wanderungen ihr 
eine gefiel oder merkwuͤrdig ſchien, 
nach Zeit und Laune mit der Feder 
oder in Waſſerfarben aufs Papier. 
Zum O hatte es ihr an Geduld 
und an Fleiß gefehlt, und ſelten 
mahlte ſie ein Portrait, nur wann 
ſie ein Geſicht ſehr ausgezeichnet und 
werth hielt. Dann arbeitete ſie mit 
der gewiſſenhafteſten Treue und 
Sorgfalt und wußte die Paſtellfarben 


— — —— . — — . ꝙ. HE En BE 


191 
mit einer bezaubernden Weichheit zu 
behandeln. So bedingt und gering 
der Werth dieſer Verſuche fuͤr die 
Kunſt ſeyn mochte, ſo freute ſich 
Julius doch nicht wenig uͤber die 
ſchoͤne Wildheit in ihren Landfchaf: 
ten und uͤber den Geiſt, mit dem ſie 
die unergruͤndliche Mennicfaltigkeit 


und wunderbare uübereinſtimmung der 


menſchlichen Geſichtszuͤge auffaßte. 
Und ſo einfach die der Kuͤnſtlerin 
ſelbſt waren, ſo waren ſie doch nicht 
unbedeutend, und Julius fand in ib⸗ 
nen einen großen Ausdruck, der ihm | 
immer neu. lieb. | 
Lueinde hatte einen entſchiednen 
| er fühlte 
fich betroffen uͤber die neue Ahnlich⸗ 
keit und er entdeckte immer mehrere. 


192 
Auch ſie war von denen, die nicht in 
der gemeinen Welt leben, ſondern in 
deiner eignen ſelbſtgedachten und 
ſelbſigebildeten. Nur was ſie von 
Herzen liebte und ehrte, war in der 
That wirklich fuͤr ſie, alles andre 
nichts; und ſie wußte was Werth 
hat. Auch ſie hatte mit kuͤhner 
Entſchloſſenheit alle Ruͤckſichten und 
alle Bande zerriſſen und lebte völlig 
frey und unabhaͤngig. 

Die wunderbare Gleichheit zog 
den Juͤngling bald in ihre Naͤhe, 
er bemerkte daß auch ſie dieſe Gleich⸗ 


heit fuͤhle, und beyde nahmen es 


gewahr, daß ſie ſich nicht gleichguͤl⸗ 


tig waͤren. Es war noch nicht lan⸗ 


ge, daß ſie ſich ſahen und Julius 
wagte nur einzelne abgerißne Worte, 
die 


193 


die bedeutend aber nicht deutlich 
waren. Er ſehnte ſich mehr von ih- 
ren Schickſalen und ihrem ehemali⸗ 
gen Leben zu wiſſen, woruͤber ſie 
gegen andre ſehr geheimnißvoll war. 
Ihm geſtand fie nicht ohne gewalt⸗ 
ſame Erſchuͤtterung, ſie ſey ſchon 
Mutter geweſen von einem ſchoͤnen 
ſtarken Knaben, den ihr der Tod 
bald wieder entriſſen. Auch er er 
innerte ſich an die Vergangenheit, 
und ſein Leben ward ihm, indem er 
es ihr erzaͤhlte, zum erſtenmal zu 
einer gebildeten Geſchichte. Wie 
freute ſich Julius, da er mit ihr 
uͤber Muſik ſprach, und ſeine inner⸗ 
ſten und eigenſten Gedanken uͤber 
den heiligen Zauber dieſer romanti⸗ 


ſchen Kunſt aus ihrem Munde hoͤrte! 
Sucinde I, N 


| 


194 


Da er ihren Geſang vernahm, der 
ſich rein und ſtark gebildet aus tie⸗ 
fer weicher Seele hob, da er ihn 
mit dem ſeinigen begleitete, und ihre 
Stimmen bald in Eins floſſen, bald 
Fragen und Antworten der zarteſten 
Empfindung wechſelten, fuͤr die es 
keine Sprache giebt! Er konnte nicht 
widerſtehn, er druͤckte einen ſchuͤch⸗ 
ternen Kuß auf die friſchen Lippen 
und die feurigen Augen. Mit ewi⸗ 
gem Entzuͤcken fuͤhlte er das goͤtt⸗ 
liche Haupt der hohen Geſtalt auf 
ſeine Schulter ſinken, die ſchwarzen 
Locken floſſen uͤber den Schnee des 
vollen Buſens und des ſchoͤnen Ruͤk⸗ 
kens, leiſe ſagte er herrliche Frau! 
als die fatale Geſellſchaft unerwartet 
hereintrat. I; 


195 

Nun hatte fie ihm nach feinen 
Begrifen eigentlich ſchon alles ge: 
währt; es war ihm nicht möglich zu 
kuͤnſteln an einem Verhaͤltniß, das 
er ſich ſo rein und groß dachte, und 
doch war ihm jede Zoͤgerung uner⸗ 
e kun ans Sun dachte 
er, begehrt man nicht erſt das, was 
man nur als übergang und Mittel 
denkt, ſondern man bekennt ſogleich 
mit Offenheit und Zuverſicht das 
Ziel aller Wuͤnſche. So bat auch 
er ſie mit der unſchuldigſten Unbe— 
fangenheit um alles, was man eine 
Geliebte bitten kann, und ſtellte ihr 
in einem Strome von Beredſamkeit 
dar, wie ſeine Leidenſchaftlichkeit ihn 
zerſtoͤren würde, wenn fie zu weib⸗ 
lich ſeyn wollte. Sie war nicht 

N2 


196 


wenig uͤberraſcht, aber fie ahndete 
wohl, daß er nach der Hingebung 
liebender und treuer ſein wuͤrde wie 
vorher. Sie konnte keinen Entſchluß 
faſſen, und uͤberließ es nur den Um⸗ 
ſtaͤnden, die es ſo fuͤgten, wie es 
gut war. Sie waren nur wenige 
| Tage allein, als ſie fich ihm auf 
ewig ergab Und ihm die Tiefe ibrer 
großen Seele oͤffnete und alle Kraft, 
Natur und Heiligkeit, die in ihr 
war. Auch fie lebte lange in ge⸗ 
waltſamer Verſchloſſenheit, und nun 
brachen zwiſchen den Umarmungen 
in Stroͤmen der Rede das zuruͤckge⸗ 
draͤngte Zutrauen und die Mitthei⸗ 
lung mit einemmale hervor aus dem 
innerſten Gemuͤth. In einer Nacht 
wechſelten ſie mehr als einmal heftig 


197 
zu weinen und laut zu lachen. Sie 
waren ganz hingegeben und eins, 
und doch war jeder ganz er ſelbſt, 
mehr als ſie es noch je geweſen wa⸗ 
ren, und jede Außerung war voll 
vom tiefſten Gefuͤhl und eigenſten 
Weſen. Bald ergriff ſie eine unend⸗ 
liche Begkiſterung ! bald taͤndelten 
und ſcherzten ſie muthwillig und Amor 
war hier wirklich, was er ſo ſelten 
iſt, ein froͤhliches Kind. 

Durch das, was ſeine Freundin 
ihm offenbart hatte, ward es dem 
Juͤnglinge klar, daß nur ein Weib 
recht ungluͤcklich ſeyn kann und recht 
glücktic „und daß die Frauen allein, 
die mitten im Schooß der menjch- 
lichen Geſellſchaft Naturmenſchen ge⸗ 
blieben ſind, den kindlichen Sinn 


. DEN ne 


| 198 
haben, mit dem man die Gunſt und 
Gabe der Goͤtter annehmen muß. Er 
lernte das ſchoͤne Gluͤck ehren, was 
er gefunden hatte, und wenn er es 
mit dem haͤßlichen unaͤchten Gluͤck 
verglich, was er ehedem vom Eigen⸗ 
| finn des Zufalls kuͤnſtlich erzwingen 
wollte, ſo erſchien es ihm wie eine 
natürliche Roſe am lebendigen Stamm 
gegen eine nachgemachte. Aber we⸗ 
* im Toumel der Naͤchte noch in 
der Freude der Tage wollte er es 
| Liebe nennen. So ſehr hatte er ſich 
beredet, daß dieſe gar nicht fuͤr ihn 
ſey und er nicht für fie! Es fand 
ſich leicht ein. unterſchied, um dieſe 
Selbſttöuſchung zu beſtaͤtigen. Er 
hege, jo war ſein Urtheil, eine hef⸗ 
tige Leidenſchaft für fie und werde 


199 
ewig ihr Freund ſeyn. Was fie ihm 
gab und fuͤr ihn fuͤhlte, nannte er 


Zaͤrtlichkeit, Erinnerung, Hingabe 


und Hoffnung. 
Indeſſen floß die Zeit und die. 
ne wuchs. Julius fand in Lu⸗ 


pig en 
es war für die Wuth iner 
Liebe und ſeiner Sinne reizender 
wie der friſche Reiz der Bruͤſte und 
der Spiegel eines Wafrkulichen Lei⸗ 
bes. Die inrelßende Kraft und 
cen ihrer Umſchließung war mehr 

miädchenhaftz ſie hatte einen An⸗ 
c von Begeisterung und Tiefe, 
den nur eine Mutter haben kann. 
Wenn er ſie im Zauberſchein einer 
milden Daͤmmerung hingegoſſen ſah, 


er 


200 


konnte er nicht aufhören, die ſchwel⸗ 
e Umriſſe ſchmeichelnd zu be⸗ 
ruͤhren, und durch die zarte Huͤlle 
der ebnen Haut die warmen Stroͤme 
des feinſten Lebens zu fuͤhlen. Sein 
Auge indeſſen berauſchte ſich an der 
Farbe, die ſich durch die Wirkung 
der Schatten vielfach zu veraͤndern 
ſchien und doch immer eine und die⸗ 
ſelbe blieb. Eine reine Miſchung, 
wo nirgends Weiß oder Braun oder 
Roth allein abſtach oder ſich roh 
zeigte. Das alles war verſchleyert 
und verſchmolzen zu einem einzigen 
harmoniſchen Glanz von ſanftem Le⸗ 
ben. — Auch Julius war maͤnnlich 
ſchoͤn, aber die Maͤnnlichkeit ſeiner 
Geſtalt offenbarte ſich nicht in der 
hervorgedraͤngten Kraft der Muſkeln. 


201 


Vielmehr waren die Umriſſe ſanft, 
die Glieder voll und rund, doch war 
nirgends ein Überfluß. In hellem 
Licht bildete die Oberflaͤche uͤberall 
breite Maſſen und der glatte Koͤr⸗ 
per ſchien dicht und feſt wie Mar⸗ 
mor, und in den Kaͤmpfen der Liebe 
entwickelte ſich mit einemmale der 
ganze Reichthum ſeiner kraͤftigen 
Bildung. 

Sie erfreuten ſich des jugendlichen 
Lebens, Monate vergingen wie Tage, 
und mehr als zwey Jahre waren vor⸗ 
über. Nun ward Julius erſt allmaͤh⸗ 
lig inne, wie groß ſeine Ungeſchicklich⸗ 
keit ſey und ſein Mangel an Ver⸗ 
ſtand. Er hatte die Liebe und das 
Gluͤck uͤberall geſucht, wo ſie nicht 
zu finden waren, und nun da er 


\ I — 


202 


das Höchfte beſaß „hatte er nicht 
einmal gewußt oder gewagt, ihm 
den rechten Namen zu geben. Er 
erkannte nun wohl, daß die Liehe, 
die fuͤr die weibliche Seele ein un⸗ 
theilbares durchaus einfaches Gefuͤhl 


iſt, fuͤr den Mann nur ein Wechſel 
und eine Miſchung von Leidenſchaft, 


von Freundſchaft und von Sinnlich⸗ 


keit ſeyn kann; und er ſah mit fro⸗ 
hem Erſtaunen, daß er eben ſo un⸗ 


endlich geliebt werde wie er liebe. 


Überhaupt ſchien es vorherbe⸗ 
ſtimmt, daß jede Begebenheit ſeines 
Lebens ihn durch ein ſonderbares 
Ende uͤberraſchen ſolle. Nichts zog 
ihn anfangs ſo ſehr an, und hatte 
ihn ſo maͤchtig getroffen, als die 
Wahrnehmung, daß Lueinde von 


203 


ähnlichem ja gleichem Sinn und 
Geiſt mit ihm ſelbſt war, und nun 
mußte er von Tage zu Tage neue 
Verſchiedenheiten entdecken. Zwar 
gruͤndeten ſich ſelbſt dieſe nur auf 
eine tiefere Gleichheit, und je reicher 
ihr Weſen ſich entwickelte, je vielſei— 
tiger und inniger ward ihre Ver— 
bindung. Er hatte es nicht geahn⸗ 
det, daß ihre Originalitaͤt ſo uner⸗ 
ſchöß pile war Wie ihre Liebe. Ihr 
Ausſehn ſogar ſchien jugendlicher 
und bluͤhender in ſeiner Gegenwart; 
und ſo bluͤhte auch ihr Geiſt durch 
die Beruͤhrung des ſeinigen auf und 


Aa 
AN 


bildete ſich in neue Geſtalten und in 


neue Welten. Er glaubte alles in 


ihr vereinigt zu beſitzen, was er 4 
ſonſt einzeln geliebt hatte: die fchöne 


204 


Neuheit des Sinnes, die hinreißende 
Leidenſchaftlichkeit, die beſcheidne Thaͤ⸗ 
tigkeit und Bildſamkeit und den gro⸗ 
ßen Charakter. Jedes neue Verhaͤlt⸗ 

a ; SSL .. 
niß, jede neue Anſicht war fuͤr ſie 
ein neues Organ der Mittheilung 


und Harmonie. Wie der Sinn fuͤr 


einander, wuchs auch der Glauben 


an einander, und mit dem Glauben 
ſtieg der Muth und die Kraft. 

Sie theilten ihre Neigung zur 
Kunſt und Julius vollendete einiges. 
Seine Gemaͤlde belebten ſich, ein 
Strom von beſeelendem Licht ſchien 
ſich daruͤber zu ergießen und in fri⸗ 
ſcher Farbe bluͤhte das wahre Fleiſch. 
Badende Maͤdchen, ein Juͤngling, 
der mit geheimer Luſt ſein Ebenbild 
im Waſſer anſchaut, oder eine hold⸗ 


205 


ſelig laͤchelnde Mutter mit dem ge: 
liebten Kinde im Arm waren beynah 
die hoͤchſten Gegenſtaͤnde feines Pin: 
ſels. Die Formen ſelbſt entſprachen 
vielleicht nicht immer den angenomme— 
nen Geſetzen einer kuͤnſtlichen Schoͤn— 
heit. Was ſie dem Auge empfahl, 
war eine gewiſſe ſtille Anmuth, ein 
tiefer Ausdruck von ruhigem heitern 
Daſeyn und von Genuß dieſes Da— 
ſeyns. Es ſchienen beſeelte Pflan⸗ 
zen in der gottaͤhnlichen Geſtalt des 
Menſchen. Eben dieſen liebenswuͤr— 
digen Charakter hatten auch ſeine 
Umarmungen, in deren Verſchieden⸗ 
heit er unerſchoͤpflich war. Die 
mahlte er am liebſten, weil der Reiz 
ſeines Pinſels ſich hier am ſchoͤnſten 
zeigen konnte. In ihnen ſchien wirk⸗ 


206 


lich der flüchtige und geheimnißvolle 
Augenblick des hoͤchſten Lebens durch 
einen ſtillen Zauber uͤberraſcht und 
fuͤr die Ewigkeit angehalten. Je 
entfernter von bakchantiſcher Wuth, 
je beſcheidner und lieblicher die Be: 
handlung war, je verfuͤhreriſcher war 
der Anblick, bey dem Juͤnglinge und 
Frauen ein ſuͤßes Feuer durchſtroͤmte. 

Wie ſeine Kunſt ſich vollendete 
und ihm von ſelbſt in ihr gelang, 
was er zuvor durch kein Streben 
und Arbeiten erringen konnte: ſo 
ward ihm auch ſein Leben zum Kunſt⸗ 
nahm, wie es geſchah. Es ward 
Licht in ſeinem Innern, er ſah und 
überfah alle Maſſen feines Lebens 


und den Gliederbau des Ganzen klar 


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207 
und richtig, weil er in der Mitte 


ſtand. Er fühlte, daß er diefe Ein⸗ 


heit nie verlieren koͤnne, das Raͤth⸗ 
ſel ſeines Daſeyns war geloͤſt, er 


» K 4 


hatte das Wort gefunden, und alles 


ſchien ihm dazu vorherbeſtimmt und 
von den frühften Zeiten darauf an⸗ 
gelegt, daß er es in der Liebe fin⸗ 
den ſollte, zu der er ſich aus ju⸗ 
gendlichem Unverſtand ganz unge— 
ſchickt geglaubt hatte. 

Leicht und melodiſch floſſen ihnen 
die Jahre vorüber, wie ein ſchoͤner 
Geſang, ſie lebten ein gebildetes 
Leben, auch ihre Umgebung ward 
harmoniſch und ihr einfaches Gluͤck 
ſchien mehr ein ſeltnes Talent als 
eine ſonderbare Gabe des Zufalls. 
Julius hatte auch ſein aͤußeres Be⸗ 


208 \ * 


tragen verändert; er war geſelliger, 
und obgleich er viele ganz verwarf, 
um ſich mit wenigen deſto inniger 
zu verbinden, ſo unterſchied er doch 
nicht mehr ſo hart, wurde vielſeiti⸗ 
ger und lernte das gewöhnliche i ver: 
edeln. Er zog allmaͤhlig manche 
vorzuͤgliche Menſchen an ſich, Lu⸗ 
einde verband und erhielt das Ganze 
und ſo entſtand eine freye Geſell⸗ 
ſchaft, oder vielmehr eine große Fa⸗ 
milie, die ſich dur Bildung 
immer neu blieb. Auch vorzuͤg⸗ 
liche Ausländer erhielten den Zutritt. 
Julius ſprach ſeltner mit ihnen, aber 
Lueinde wußte fie gut zu unterhal⸗ 
ten; und zwar ſo daß ihre en 
Allgemeinheit und ausgebildete Ge⸗ 
meinheit zugleich die andern ergoͤtzte, 
und 


re 


RETTET ne 


. 


209 


und weder ein Stillſtand noch ein 
Mislaut in der geiſtigen Muſik er⸗ 
regt ward, deren Schoͤnheit eben in 
der harmoniſchen Mannichfaltigkeit 
und Abwechſelung beſtand. Neben 
dem großen, ernſten Styl in der 
Kunſt der Geſelligkeit ſollte auch. 
jede nur reizende Manier und Flüch- f 
tige Laune ihre Stelle darin finden. 
Eine allgemeine Zaͤrtlichkeit ſchien 
Julius zu beſeelen, nicht ein nuͤtzen— 
M elne 
des oder mitleidendes Wohlwollen 
an der Menge, ſondern eine an⸗ 
auende Freude uͤber die Schoͤnheit 
n, der ewig bleibt, wäh: | 
rend die einzelnen ſchwinden; und 
ein reger und offner Sinn fuͤr das 
Innerſte in ſich und in andern. Er 


war faſt immer gleich geſtimmt zum 
Lucinde I. O 


210 


kindlichſten Scherz und zum heilig⸗ 
ſten Ernſt. Er liebte nicht mehr nur 
die Freundſchaft in ſeinen Freunden, 
ſondern ſie ſelbſt. Jede ſchoͤne Ahn⸗ 
dung und Andeutung, die in der 
g Seele liegt, ſtrebte er f im Geſpraͤch 
mit aͤhnlich ee ans Licht zu 
bringen und zu entwickeln. Da ward 
ſein Geiſt in vielfachen Richtungen 
und Verhaͤltniſſen ergaͤnzt und berei⸗ 
chert. Aber die volle Harmonie fand 
er auch von dieſer Seite allein in Lu⸗ 
eindens Seele, wo die Keime alles 
Herrlichen und alles Heiligen nur 
auf den Strahl ſeines Geiſtes war⸗ 
teten, u m ſich zur ſchoͤnſten Religion 
zu entfa 1 2 


eee 2 


411 


Ich verſetze mich gern in den 
Fruͤhling unſrer Liebe; ich ſehe alle 
die Veraͤnderungen und Verwand— 
lungen, ich lebe ſie noch einmal, 
und ich moͤchte wenigſtens einige 
von den leiſen Umriſſen des entflie⸗ 
henden Lebens ergreifen und zu ei⸗ 
nem bleibenden Bilde geſtalten, jetzt 
da es noch voller warmer Sommer 
in mir iſt, ehe auch das voruͤber 
und es auch dazu zu ſpaͤt wird. 
Wir Sterblichen ſind, ſo wie wir hier 
ſind, nur die edelſten Gewaͤchſe die⸗ 
ſer ſchoͤnen Erde. Die Menſchen 

geſſen das fo leicht, hoͤchlich lies 
Ri n fie die ewigen Geſetze der 

lt und wollen die geliebte Ober⸗ 

fi dee im Mittelpunkte wie⸗ 

derfinden. Nicht alſo du und ich. 
O 2 


A 


212 


Wir find dankbar und zufrieden mit 
dem was die Götter wollen und 


i was fie in der heiligen Schrift der 


fchönen Natur fo klar angedeutet 


haben. Das beſcheidne Gemuͤth er⸗ 


kennt es, daß es auch ſeine wie al⸗ 
ler Dinge natuͤrliche Beſtimmung 
ſey, zu bluͤhen, zu reifen und zu 
welken. Aber es weiß, daß eines 
doch in ihm unvergaͤnglich ſey. Die⸗ 


ſes iſt die ewige Sehnſucht nach der 
ewigen Jugend, die immer da iſt 


und immer entflieht. Noch klaget 


die zaͤrtliche Venus um den Tod des 
holden Adonis in jeder ſchoͤnen Seele. 
Mit ſuͤßem Verlangen erwartet und 
ſucht ſie den Juͤngling, mit zarter 


Wehmuth erinnert ſie ſich an die 


himmliſchen Augen des Geliebten, 


r EN Te u re 


213 


an die fanften Züge und an die 
kindlichen Geſpraͤche und Scherze, 
und laͤchelt dann eine Thraͤne, hold 
erroͤthend, auch ſich nun unter den 
Blumen der bunten Erde zu er 
blicken. 


Andeuten will ich dir wenigſtens 


in goͤttlichen Sinnbildern, was ich 


nicht zu erzaͤhlen vermag. Denn 


wie ich auch die Vergangenheit uͤber⸗ 


denke, und in mein Ich zu dringen 


ſtrebe, um die Erinnerung in klarer 
Gegenwart anzuſchauen und dich an— | 
ſchauen zu laſſen: es bleibt immer 
etwas zuruͤck, was ſich nicht aͤußer⸗ 
lich darſtellen laͤßt, weil es ganz 
innerlich iſt. Der Geiſt des Men⸗ 


ſchen iſt ſein eigner Proteus, ver⸗ 
wandelt ſich und will nicht Rede 


214 
ſtehn vor ſich ſelbſt, wenn er fich 


greifen moͤchte. In jener tiefſten 
Mitte des Lebens treibt die ſchaffen⸗ 
de Willkühr ihr Zauberſpiel. Da 
ſind die Anfaͤnge und Enden, wohin 
alle Faͤden im Gewebe der geiſtigen 
Bildung ſich verlieren. Nur was 
allmaͤhlig fortruͤckt in der Zeit und 
ſich ausbreitet im Raume, nur was 
geſchieht iſt Gegenſtand der Ge⸗ 
ſchichte. Das Geheimniß einer au⸗ 
genblicklichen Entſtehung oder Ver⸗ 
wandlung kann man nur errathen 
und durch Allegorie ertathen laſſen. 

Es war nicht ohne Grund, daß 
der fantaſtiſche Knabe, der mir am 
meiſten gefiel unter den vier unſterb⸗ 
lichen Romanen, die ich im Traum 
ſah, mit der Maske ſpielt. Auch 


EEE ( 


215 


in dem, was reine Darftellung und 
Thatſache ſcheint, hat ſich Allegorie 
eingeſchlichen und unter die ſchoͤne 
Wahrheit bedeutende Luͤgen gemiſcht. 
Aber nur als geiſtiger Hauch ſchwebt 
ſie beſeelend uͤber die ganze Maſſe, 
wie der Witz, der unſichtbar mit feis 
nem Werke ſpielt und nur leiſe 
laͤchelt. 

Es giebt Dichtungen in der al⸗ 


ſchoͤn, heilig und zart erſcheinen. 

ie Poeſie hat ſie ſo fein und reich 
gebildet und umgebildet, daß ihre 
ſchoͤne Bedeutſamkeit unbeſtimmt ge⸗ 
blieben iſt und immer neue Deu— 
tungen und Bildungen erlaubt. Un⸗ 
ter dieſen habe ich, um dir einiges 
von dem anzudeuten, was ich uͤber 


3 


216 


die Metamorphoſen des liebenden 
Gemuͤths ahnde, die gewaͤhlt, von 
denen ich glaubte, der Gott der 
Harmonie koͤnnte ſie, nachdem ihn 
die Liebe vom Himmel auf die Erde 
gefuͤhrt und ihn zum Hirten gemacht, 
den Muſen erzaͤhlt oder doch von 
ihnen angehoͤrt haben. Damals an 
den Ufern des Amphryſos hat er 
auch, wie ich glaube, die Idylle und 
die Elegie erſonnen. 


Metamorphoſen. 


In ſuͤßer Ruhe ſchlummert der 
kindliche Geiſt und der Kuß der lie⸗ 
benden Goͤttin erregt ihm nur leichte 
Traͤume. Die Roſe der Schaam 
faͤrbt ſeine Wange, er laͤchelt und 
ſcheint die Lippen zu oͤffnen, aber 


217 


er erwacht nicht, und er weiß nicht, 
was in ihm vorgeht. Erſt nachdem 
der Reiz des aͤußern Lebens, durch 
ein innres Echo vervielfaͤltigt und 
verſtaͤrkt, ſein ganzes Weſen uͤberall 
durchdrungen hat, ſchlaͤgt er das 
Auge auf, frohlockend über die Son: 
ne, und erinnert ſich jetzt an die 
Zauberwelt, die er im Schimmer des 
blaſſen Mondes ſah. Die wunder⸗ 
bare Stimme, die ihn weckte, iſt 
ihm geblieben, aber ſie toͤnt nun ſtatt 
der Antwort von den aͤußern Ge: 
genſtaͤnden zuruͤck; und wenn er 
dem Geheimniß ſeines Daſeyns mit 
kindlicher Schuͤchternheit zu entfliehen 
ſtrebt, das Unbekannte mit ſchoͤner 
Neugier ſuchend, vernimmt er uͤber⸗ 
all nur den Nachhall ſeiner eignen 
Sehnſucht. 


218 


So ſchaut das Auge in dem Spie⸗ 
gel des Fluſſes nur den Wiederſchein 
des blauen Himmels, die gruͤnen 
Ufer, die ſchwankenden Baͤume und 
die eigne Geſtalt des in ſich ſelbſt 
verſunkenen Betrachters. Wenn ein 
Gemuͤth voll unbewußter Liebe da, 
wo es Gegenliebe hoffte, ſich ſelbſt 
findet, wird es von Erſtaunen ge⸗ 
troffen. Doch bald laͤßt ſich der 
Menſch wieder durch den Zauber 
der Anſchauung locken und taͤuſchen, 
ſeinen Schatten zu lieben. Dann iſt 
der Augenblick der Anmuth gekom⸗ 
men, die Seele bildet ihre Huͤlle noch 
einmal, und athmet den letzten Hauch 
der Vollendung durch die Geſtalt. 
Der Geiſt verliert ſich in ſeiner kla⸗ 
ren Tiefe und findet ſich wie Nar⸗ 
ciſſus als Blume wieder. 


Br en 


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F 


219 


Liebe ift Höher als Anmuth, und 
wie bald würde die Bluͤthe der 
Schoͤnheit fruchtlos welken ohne die 
ergaͤnzende Bildung der Gegenliebe! 

Dieſer Augenblick, der Kuß des 
Amor und der Pſyche, iſt die Roſe 
des Lebens. — Die begeiſterte Dio— 
tima hat ihrem Sokrates nur die 
Haͤlfte der Liebe offenbart. Die 
Liebe iſt nicht bloß das ſtille Ver⸗ 
langen nach dem Unendlichen; ſie iſt 
auch der heilige Genuß einer ſchoͤnen 
Gegenwart. Sie iſt nicht bloß eine ö 
Miſchung, ein Übergang vom Sterb⸗ 
lichen zum Unfterblichen, ſondern ſie 
iſt eine voͤllige Einheit beyder. ks 
giebt eine reine Liebe, ein untheil⸗ 
bares und einfaches Gefuͤhl ohne die 
leiſeſte Stoͤrung von unruhigem | 


220 


Streben. Jeder giebt daſſelbe was 
er nimmt, einer wie der andre, al⸗ 
les iſt gleich und ganz und in ſich 
vollendet wie der ewige Kuß der 
goͤttlichen Kinder. 

Durch die Magie der PR 
fließt das große Chaos ſtreitender 
Geſtalten in ein harmoniſches Meer 
der Vergeſſenheit. Wenn der Strahl 
des Gluͤcks ſich in der letzten Thraͤne 
der Sehnſucht bricht, ſchmuͤckt Iris 
ſchon die ewige Stirn des Himmels 
mit den zarten Farben ihres bunten 
Bogens. Die lieblichen Traͤume 
werden wahr, und ſchoͤn wie Ana⸗ 
dyomene heben ſich aus den Wogen 
des Lethe die reinen Maſſen einer 
neuen Welt und entfalten ihren Glie⸗ 
derbau in die Stelle der verſchwund⸗ 


7 — 


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221 


nen Finſterniß. In goldner Jugend 
und Unſchuld wandelt die Zeit und 
der Menſch im goͤttlichen Frieden 
der Natur, und ewig kehrt Aurora 
ſchoͤner wieder. 

Nicht der Haß, wie die Weiſen 
ſagen, ſondern die Liebe trennt die 
Weſen und bildet die Welt, und nur 
in ihrem Licht kann man dieſe fin⸗ 
den und ſchauen. Nur in der Ant⸗ 

ines jedes Ich ſeine 
unendliche Einheit ganz fühlen, Dann 
will der Verſtand den innern Keim 
der Gottaͤhnlichkeit entfalten, ſtrebt 
immer naͤher nach dem Ziele und iſt 
voll Ernſt, die Seele zu bilden, wie 
ein Kuͤnſtler das einzig geliebte 
Werk. In den Muſterien der Bil⸗ 
dung ſchaut der Geiſt das Spiel 


222 


und die Geſetze der Willkuͤhr und 
des Lebens. Das Werk des Pyg⸗ 
malion bewegt ſich, und den uͤber⸗ 
raſchten Kuͤnſtler ergreift ein freudi⸗ 
ger Schauer im Bewußtſeyn eigner 


Unſterblichkeit, und wie der Adler 


den Ganymedes reißt ihn die goͤtt⸗ 


liche Hoffnung mit maͤchtigem i 


zum Olymp. 


Zwey Briefe. 
I. 

Iſt es denn wahr und wirklich, 
was ich ſo oft in der Stille wuͤnſchte 
und nicht zu aͤußern wagte? — Ich 
ſehe das Licht einer heiligen Freude 
auf deinem Antlitz laͤcheln, und be⸗ 
ſcheiden giebſt du mir die ſchoͤne 11 
heißung. 


223 


Du wirft Mutter ſeyn! — 

Lebe wohl, Sehnſucht und du 
leiſe Klage, die Welt iſt wieder 
ſchoͤn, jetzt liebe ich die Erde, und 
die Morgenroͤthe eines neuen Fruͤh— 
lings hebt ihr Roſenſtrahlendes Haupt 
uͤber mein unſterbliches Daſeyn. 
Wenn ich Lorbeern haͤtte, wuͤrde ich 
ſie um deine Stirn flechten, um dich 
einzuweihen zu neuem Ernſt und zu 
neuer Thaͤtigkeit; denn auch fuͤr dich 
beginnt nun ein anderes Leben. Da⸗ 
fuͤr gieb du mir den Myrthenkranz. 
Es ſteht mir wohl an, mich jugend— 
lich zu ſchmuͤcken mit dem Sinnbilde 
der Unſchuld, da ich im Paradieſe 
der Natur wandle. Was vorher 
war zwiſchen uns, iſt nur Liebe ge⸗ 
weſen und Leidenſchaft. Nun hat 


224 

uns die Natur inniger verbunden, 
ganz und unaufloͤslich. Die Natur 
allein iſt die wahre Prieſterin der 
Freude; nur ſie verſteht es, ein 
hochzeitliches Band zu kunuͤpfen. 
Nicht durch eitle Worte ohne See⸗ 
gen, ſondern durch friſche Bluͤthen 
und lebendige Früchte aus der Fülle 
ihrer Kraft. Im endloſen Wechſel 
neuer Geſtalten flicht die bildende 
Zeit den Kranz der Ewigkeit, und 
heilig iſt der Menſch, den das Gluͤck 
beruͤhrt, daß er Fruͤchte traͤgt und 
geſund iſt. Wir ſind nicht etwa 
taube Bluͤthen unter den Weſen, die 
Goͤtter wollen uns nicht ausſchließen 
aus der großen Verkettung aller 
wirkenden Dinge, und geben uns 


deutliche Zeichen. So laß uns denn 


unſre 


. * * ler . 


225 


unſre Stelle in dieſer ſchoͤnen Welt 
verdienen, laß uns auch die unfterb- 
lichen Fruͤchte tragen, die der Geiſt 
und die Willkuͤhr bildet, und laß 
uns eintreten in den Reigen der 
Menſchheit. Ich will mich anbauen 


auf der Erde, ich will fuͤr die Zu⸗ 


kunft und fuͤr die Gegenwart ſaͤen 


und erndten, ich will alle Kraͤfte 
brauchen, ſo lange es Tag iſt, und 
mich dann am Abend in den Armen 
der Mutter erquicken, die mir ewig 


— . 7 


Braut ſeyn wird. Unſer Sohn, 
der kleine ernſthafte Schalk wird 


um uns ſpielen, und manchen Muth⸗ 

WA Nn . a 
willen gegen dich mit mir aus⸗ 
ſinnen. 


Lucinde J. P 


226 


Du haft Recht, das kleine Land⸗ 


gut muͤſſen wir durchaus kaufen. 
Es iſt gut, daß du gleich die An⸗ 
ſtalten getroffen haſt, ohne auf meine 
Entſcheidung zu warten. Richte al⸗ 
les ein, wie es dir gefaͤllt; nur nicht 
gar zu ſchoͤn, wenn ich bitten darf, 
aber auch nicht zu nuͤtzlich und vor 
allen Dingen nicht zu weitlaͤuftig. 

Wenn du nur alles ganz nach 
deinem eignen Sinn machſt, und dir 
nichts einreden laͤßt von Gewoͤhnli⸗ 
chem und Schicklichem, ſo wird es 
ſchon recht ſeyn, wie es ſeyn muß 
und wie ichs wuͤnſche, und ich werde 
eine herrliche Freude haben uͤber das 
ſchoͤne Eigenthum. Was ich ſonſt 
brauchte, hatte ich gedankenlos und 
ohne Gefuͤhl von Beſitz. Leichtſinnig 


im e 


227 


lebte ich über die Erde weg, und 
war nicht einheimiſch auf ihr. Nun 
hat das Heiligthum der Ehe mir das 
Buͤrgerrecht im Stande der Natur 
gegeben. Ich ſchwebe nicht mehr 
im leeren Raum einer allgemeinen 
Begeiſterung, ich gefalle mir in der 
freundlichen Beſchraͤnkung, ich ſehe 
das Nuͤtzliche in einem neuen Lichte 
und finde alles wahrhaft nuͤtzlich, 
was irgend eine ewige Liebe mit ih⸗ 
rem Gegenſtande vermaͤhlt, kurz al⸗ 
les was zu einer aͤchten Ehe dient. 
Die aͤußerlichen Dinge ſelbſt floͤßen 
mir Hochachtung ein, wenn ſie in 
ihrer Art tuͤchtig ſind, und du wirſt 
am Ende noch frohlockende Lobreden 
auf den Werth eines eignen Heer⸗ 

P 2 | 


RE Ener 


228 


des und über die Würde der Haͤus⸗ 
lichkeit von mir hören. 

Ich verſtehe jetzt deine Vorliebe 
fuͤrs Landleben, ich liebe ſie an dir, 
und ich fuͤhle wie du. Ich mag ſie 
gar nicht mehr ſehn, dieſe unbeholf⸗ 
nen Klumpen von allem was ver⸗ 
derbt und krank iſt in der Menſch⸗ 
heit; und wenn ich ſie im allgemei⸗ 
nen denken will, erſcheinen ſie mir 
wie wilde Thiere an der Kette, die 
nicht einmal frey wuͤthen koͤnnen. 
Auf dem Lande koͤnnen die Menſchen 


doch noch beyſammen ſeyn, ohne ſich 


haͤßlich zu draͤngen. Da koͤnnten, 
wenn alles waͤre wie es ſollte, ſchoͤ⸗ 
ne Wohnungen und liebliche Huͤtten 
wie friſche Gewaͤchſe und Blumen 
den gruͤnen Boden ſchmuͤcken und 


r * > 


— 


— 


— — 


229 


einen würdigen Garten der Gottheit 
bilden. 

Freylich werden wir auch auf 
dem Lande die Gemeinheit wieder 
finden, die noch uͤberall herrſcht. Es 1 
ſollte eigentlich nur zwey Staͤnde 
unter den Menſchen geben, den bil⸗ 
denden und den gebildeten, den 
maͤnnlichen und den weiblichen, und 
ſtatt aller Fünftlichen Geſellſchaft eine 
große Ehe dieſer beiden Staͤnde, und 
allgemeine Bruͤderſchaft aller Einzel⸗ 


nen. Statt deſſen ſehen wir nur 


eine Unzahl von Rohheit, und als 
unbedeutende Ausnahme einige, die 
durch Mißbildung verkehrt ſind! 
Aber in der freyen Luft kann doch 
das Einzelne, was ſchoͤn und gut 
iſt, nicht ſo erdruͤckt werden durch 


230 


die ſchlechte Maſſe und durch den 
Schein ihrer Allmacht. 

Weißt du, welche Zeit unſrer 
Liebe mir beſonders ſchoͤn glänzt? — 
Zwar iſt mir alles ſchoͤn und rein 
in der Erinnerung, und auch an die 
erſten Tage denke ich mit wehmuͤthi⸗ 
gem Entzuͤcken. Aber das wertheſte 
unter allem werthen ſind mir doch 
die letzten Tage, die wir zuſammen 
auf dem Gute lebten. — Ein neuer 
Grund, um wieder auf dem Lande 
zu wohnen! 

Noch eins. Laß mir die Wein⸗ 
reben nicht zu ſehr beſchneiden. Ich 
ſchreibe dies nur, weil du ſie gar 
zu wild und uͤppig fandeſt, und 
weil dir einfallen moͤchte, das 
kleine Haus von allen Seiten durch: 


„ 


231 
aus ſauber vor dir zu ſehn. Auch 
der gruͤne Raſenplatz muß bleiben 
wie er iſt. Darauf ſoll das Kleine 
ſein Weſen treiben, kriechen, ſpielen 
und ſich waͤlzen. 


Nicht wahr, der Schmerz, den 
dir mein trauriger Brief erregt hat, 
iſt völlig vergütet? Ich kann mich 
in allen dieſen Herrlichkeiten und im 
Taumel der Hoffnung nicht laͤnger 
mit Sorge quaͤlen. Mehr Schmerz 
als ich haſt du nicht dabey empfun— 
den. Aber was liegt daran, wenn 
du mich liebſt, wirklich liebſt, ſo recht 


im Innerſten, ohne einen Hinter— 
halt von Fremdem. Welcher Schmerz 


waͤre der Rede werth, wenn wir 


232 


damit ein tieferes, heißeres Bewußt⸗ 
ſeyn unſrer Liebe gewinnen? Auch 
du biſt ſo geſinnt. Alles, was ich 
dir da ſage, wußteſt du lange. Über⸗ 
haupt iſt kein Entzuͤcken und keine 
Liebe in mir, die nicht ſchon in ir⸗ 
gend einer Tiefe deines Weſens ver- 
borgen laͤge, du Unendliche und 
Gluͤckliche! 

Mißverſtaͤndniſſe ſind auch gut, 
damit das heiligſte einmal zur Spra⸗ 
che koͤmmt. Das Fremde, was dann 
und wann zwiſchen uns zu ſeyn 
ſcheint, iſt nicht in uns, in keinem 
von uns. Es iſt nur zwiſchen uns 
und auf der Oberflaͤche, und ich 
hoffe bey dieſer Gelegenheit wirſt 
du es ganz von dir und aus dir 
wegtreiben. 


233 

Und, woher entſtehen ſolche kleine 
Anftoßungen als aus der gegenſei⸗ 
tigen Unerſaͤttlichkeit t im Lieben und 
Geliebtwerden? Ohne dieſe Unerſaͤtt⸗ 
lichkeit giebt's keine Liebe. Wir le⸗ 
ben und lieben bis zur Vernichtung. 
Und wenn die Liebe es iſt, die uns 
erſt zu wahren vollſtaͤndigen Men⸗ 
ſchen macht, das Leben des Lebens 
iſt, fo darf auch fie wohl die Wi⸗ 
derſpruͤche nicht ſcheuen, ſo wenig 
wie das Leben und die Menſchheit; 
ſo wird auch ihr Frieden nur auf 
den Streit der Kraͤfte folgen. 

Ich fuͤhle mich gluͤcklich, daß ich 
eine Frau liebe, die jo wie du lie 
ben kann. So wie du iſt ein groͤ⸗ 
ßeres Wort als alle Superlative. — 
Wie kannſt du nur meine Worte 


* 


234 
loben, da ich, ohne es zu ES 
welche traf, die dich fo v 
mußten? Ich moͤchte ſagen, ich 
ſchreibe zu gut, um dir ſagen zu 
koͤnnen, wie mir im innerſten Ge⸗ 
muͤth iſt. Ach Liebe! glaube es nur, 
daß keine Frage in dir ohne Ant⸗ 
wort in mir iſt. Deine Liebe kann 
nicht ewiger ſeyn als die meinige. 
— Koͤſtlich iſt aber deine ſchoͤne Ei⸗ 
ferſucht auf meine Fantaſie und ihre 
Wuthbeſchreibungen. Das bezeichnet 
recht die Graͤnzenloſigkeit deiner 
Treue, laͤßt aber doch hoffen, daß 
deine Eiferſucht nahe daran ſey, in 
ihrem eignen uͤbermaaß ſich ſelbſt 
zu zernichten. 

Es bedarf nun dieſer Art von 
Fantaſie — der geſchriebenen — nicht 


erletzet a 


ne — Pe 


— 


— 2 


235 
mehr. Ich werde bald bey dir ſeyn. 
Ich bin heiliger, ruhiger wie ſonſt. 
Ich kann dich im Geiſte nur an— 
blicken und ſtets vor dir ſtehn. Du 
fuͤhlſt alles, ohne daß ich's ſage, und 
gluͤhſt freudig halb den geliebten 
Mann halb das Kind im Herzen. 


Weißt du noch, wie ich dir 
ſchrieb, keine Erinnerung koͤnne dich 
mir entweihen, du ſeyſt ewig rein 
wie die heilige Jungfrau von un⸗ 
beflecktem Empfaͤngniß, und nichts 
fehle dir zur Madonna wie das 


Kind? 


Nun haſt du es, nun iſt es da 
und wirklich. Bald trage ich ihn auf 


mr una 


dem Arm, bald erzähle ich ihm 


236 
Maͤhrchen, bald unterrichte ich ihn 
ſehr ernſthaft, bald gebe ich ihm 
gute Lehren, wie der junge Menſch 
ſich in der Welt zu betragen hat. 
Und dann kehrt mein Geiſt wie⸗ 
der zuruͤck zur Mutter, ich gebe dir 
einen unendlichen Kuß, ich ſehe wie 
ſich dein Buſen ſehnend hebt, und 
fuͤhle wie ſich's unter deinem Herzen 
geheimnißvoll regt. 


Wenn wir nur erſt wieder bey⸗ 
ſammen find, wollen wir unſrer Ju: 
gend ganz Aua dend E 
will die Gegenwart heilig Wa 
Wohl haſt du Recht: Eine Stunde 
ſpaͤter iſt unendlich viel ſpaͤter. 

Es iſt hart, daß ich eben jetzt 


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237 
nicht bey dir ſeyn kann! Ich begin: 
ne aus Ungeduld viel Naͤrriſches. 
Ich ſtreife faſt von Morgen bis 
Abend umher in der herrlichen Ge— 
gend; ich eile, als ob es Wunder 
wie nothwendig waͤre, und gerathe 
endlich an einen Ort, wohin ich am 
wenigſten wollte. Ich gebehrde mich, 
als ob ich heftige Reden hielte; ich 
glaube allein zu ſeyn und bin plöß- 
lich unter Menſchen; und muß dann 
lächeln, wenn ich bemerke, wie ab- 
weſend ich war. Auch ſchreiben 
kann ich nicht lange und will nur 
bald wieder hinaus, den ſchoͤnen 
Abend an den Ufern des ruhigen 


Stroms zu vertraͤumen. 


Heute habe ich unter andern auch 
vergeſſen, daß es Zeit war, den 


238 


Brief abzufenden. Dafür erhaͤltſt 
du nun defto mehr Verwirrung und 
Freude, 


Die Menfchen find wirklich ſehr 
gut mit mir. Sie verzeihn es mir 
nicht nur daß ich ſo oft keinen Theil 
nehme und dann mit einemmale ihr 
Geſpraͤch auf eine ſonderbare Art 
unterbreche: ſie ſcheinen ſich ſogar 
in der Stille an meiner Freude herz⸗ 
lich zu freuen. Beſonders Juliane. 
Ich ſage ihr nur weniges von dir, 
aber fie hat viel Sinn dafür und 
erraͤth das übrige. Es giebt doch 
nichts liebenswuͤrdigeres als das 
reine uneigennuͤtzige Wohlgefallen 
an der Liebe! * 


239 


Ich glaube freylich, ich würde 
jetzt meine Freunde hier lieben, wenn 
ſie auch weniger vortreffliche Men— 
ſchen waͤren. Ich fuͤhle eine große 
Veraͤnderung in meinem Weſen: 
eine allgemeine Weichheit und ſuͤße 
Waͤrme in allen ‚Vermögen der 
Seele und des Geiftes, wie die ſchoͤ⸗ 
ne Ermattung der Sinne, die auf 
das hoͤchſte Leben folgt. 

Und doch iſts nichts weniger als 
Weichlichkeit. Vielmehr weiß ich, 
daß ich alles, was meines Berufs 
iſt, von nun an mit groͤßerer Liebe 
und friſcher Kraft treiben werde. 
Ich fuͤhlte nie mehr Zuverſicht und 
Muth, als Mann unter Maͤnnern 
zu wirken, ein heldenmaͤßiges Leben 
zu beginnen und auszufuͤhren und 


—— . 


— — — 


240 


mit Freunden verbruͤdert fuͤr die Ewig⸗ 
keit zu ee 


belle 


es * den Göttern Pa zu wer⸗ 
den. Die deinige iſt es, gleich der 
Natur als Prieſterin der Freude das 
Geheimniß der Liebe leiſe zu offen⸗ 
baren und in der Mitte wuͤrdiger 
Soͤhne und Toͤchter das ſchoͤne Le⸗ 
ben zu einem heiligen Feſt zu weihen. 


Ich mache mir oft Sorge uͤber 
deine Geſundheit. Du kleideſt dich 
gar zu leicht und liebſt die Abend⸗ 
luft! Das ſind gefaͤhrliche Gewohn⸗ 
heiten, die du wie manche andre 
ablegen mußt. 


Denke, daß eine neue Ordnung 
der 


241 
der Dinge fuͤr dich beginnt. Bisher 
hieß ich deinen Leichtſinn ſchoͤn, weil 
er an der Zeit war und zum Gan— 
zen ſtimmte. Ich fand es weiblich, 
wenn du mit dem Gluͤck ſcherzen 
und alle Ruͤckſichten zerreißen und 
ganze Maſſen deines Lebens oder 
deiner umgebung vernichten konnteſt. 

Nun iſt aber etwas da, worauf 


du alles beziehen wirſt. Nun mußt 
du dich allmaͤhlich zur Okonomie 
bilden, verſteht ſich im allegoriſchen 
Sinn. 


In dieſem Brief geht alles recht 


bunt durch einander, wie im menſch⸗ 
lichen Leben Gebet und Eſſen, Schel⸗ 


Lucinde J. Q 


242 


merei und Entzuͤcken. Nun gute 
Nacht. — Ach warum kann ich 
nicht wenigſtens im Traume bei dir 
ſeyn, wirklich mit dir und in dir traͤu⸗ 
men! Denn wenn ich bloß von 
dir traͤume, iſt's doch immer nur al⸗ 
lein. — Du willſt wiſſen, warum du 
nicht von mir traͤumſt, da du doch 
ſo viel an mich denkſt? Liebe! 
ſchweigſt du nicht auch oft lange 
uͤber mich? 


Amaliens Brief hat mir große 
Freude gemacht. Freilich ſeh' ich 
aus dem ſchmeichelnden Ton, daß 
ſie mich nicht von den Maͤnnern 
ausnimmt, die der Schm 
dürfen. Ich verlange das auch gar 


— 
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— 


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170 


243 
nicht. Es waͤre unbillig zu fodern, 
daß ſie meinen Werth auf unſre 
Weiſe anerkennen ſoll. Genug, daß 
eine mich ganz kennt! — Sie erkennt 
ihn ja auf ihre Art ſo ſchoͤn! — 
Sollte ſie wohl wiſſen, was Anbe— 
tung iſt? Ich zweifle daran und 
bedaure ſie, wenn ſie es nicht weiß. 
Du nicht auch? 


Heute fand ich in einem franzoͤ⸗ 
ſiſchen Buche von zwei Liebenden 
den Ausdruck: »Sie waren einer 
dem andern das Univerfum.« — 

Wie fiel mir's auf, ruͤhrend und 
zum Lächeln, daß, was da fo ges 
dankenlos ſtand, bloß als eine Fi⸗ 

Q2 


244 | | N A 
gur der Übertreibung, in uns buch⸗ 
ſtaͤblich wahr geworden ſey! 

Eigentlich iſt's zwar auch fuͤr ſo 
eine franzoͤſiſche Paſſion buchſtaͤblich 
wahr. Sie finden das Univerſum 
einer in dem andern, weil ſie den 
Sinn fuͤr alles andre verlieren. 
F Nicht ſo wir. Alles, was wir 
ſonſt liebten, lieben wir nun noch 
| | wärmer. Der Sinn für die Welt 
iſt uns erſt recht aufgegangen. Du 
haſt durch mich die Unendlichkeit des 
menſchlichen Geiſtes kennen gelernt, 
und ich habe durch dich die Ehe und 
das Leben begriffen, und die Herr⸗ 
lichkeit aller Dinge. 

Alles iſt beſeelt fuͤr mich, ſpricht 
zu mir und alles iſt heilig. Wenn 
man ſich ſo liebt wie wir, kehrt 


245 


auch die Natur im Menfchen zu 
ihrer urſpruͤnglichen Goͤttlichkeit zu⸗ 
ruͤck. Die Wolluſt wird in der ein⸗ 
ſamen Umarmung der Liebenden wie⸗ 
der, was ſie im großen Ganzen iſt 
— das heiligſte Wunder der Natur; 
und was fuͤr andre nur etwas iſt, 
deſſen ſie ſich mit Recht ſchaͤmen 
muͤſſen, wird fuͤr uns wieder, was 
es an und fuͤr ſich iſt, das reine 
Feuer der edelſten Lebenskraft. 


Drei Pe wird unfer Kind N. 


wiß haben: viel Muthwillen, ein 


ernſthaftes Geſicht und etwas Anla= 


ge zur Kunſt. Alles andre erwarte 
ich mit ſtiller Ergebung. Sohn oder 


Tochter, daruͤber kann ich keinen be⸗ 


nne 


246 


ſtimmten Wunſch haben. Aber über 
die Erziehung habe ich ſchon unſaͤg⸗ 
lich viel gedacht, naͤmlich, wie wir 
unſer Kind vor aller Erziehung ſorg⸗ 
faͤltig bewahren wollen; vielleicht 
mehr als drei vernuͤnftige Vaͤter 
denken und ſorgen, um ihre Nach⸗ 
kommenſchaft gleich von der Wiege 
in lauter Sittlichkeit einzuſchnuͤren. 

Ich habe einige Entwuͤrfe gemacht, 
die dir gefallen werden. Auf dich 
iſt ſehr dabei gerechnet. Nur mußt 
du die Kunſt nicht vernachlaͤßigen! 
— Wuͤrdeſt du fuͤr deine Tochter, 
wenn es eine Tochter waͤre, lieber das 
Portrait oder die Landſchaft waͤh⸗ 
len? — 


247 


Du Thoͤrin mit deinen aͤußerli⸗ 
chen Dingen! Du willſt wiſſen, was 
mich umgiebt, wo, wann und wie 
ich alles thue, lebe und bin? — 
Sieh doch um dich, auf dem Stuhl 
neben dir, in deinen Armen, an 
deinem Herzen, da lebe und bin ich. 
Trifft dich nicht der Strahl des Ver— 
langens, und ſchleicht mit ſuͤßer 
Waͤrme bis an dein Herz, bis an 
den Mund, wo es in Kuͤſſen über: 
ſtroͤmen möchte? — 

Nun ruͤhmſt du dich noch gar, 
daß du immer innerlich an mich 
ſchriebſt und ich nur oft, du Syl⸗ 
benſtecherin! Erſtlich denke ich immer 
ſo an dich, wie du es beſchreibſt, 
daß ich neben dir gehe, dich ſehe, 
hoͤre, ſpreche. Dann aber auch noch 


248 
anders, beſonders wenn ich des Nachts 
aufwache. 


Wie kannſt du nur an der Wuͤr⸗ 
digkeit und Goͤttlichkeit deiner Briefe 
zweifeln! Der letzte blickt und leuchtet 
aus hellen Augen; es iſt nicht Schrift 
ſondern Geſang. — 

Ich glaube wenn ich noch einige 
Monate fern von dir waͤre, wuͤrde 
dein Styl ſich voͤllig ausbilden. In⸗ 
deſſen finde ich es doch rathſamer, 
daß wir den Styl und das Schrei⸗ 
ben nun laſſen und die ſchoͤnſten 
und hoͤchſten Studien nicht laͤnger 
ausſetzen, und ich bin ſo ziemlich 
entſchloſſen, in acht Tagen In zu 
reifen. 


EEE Ne SENDE > deze ——— = 
— ige — —— . 


249 


Zweyter Brief. 


Es iſt ſonderbar, daß der Menſch 
ſich nicht vor ſich ſelbſt fuͤrchtet. Die 
Kinder haben Recht, daß fie fo neu⸗ 
gierig und doch ſo bange in die Ge— 
ſellſchaft der unbekannten Geiſter hin— 
einblicken. Jeder einzelne Atom der 
ewigen Zeit kann eine Welt von 
Freude faſſen, aber ſich auch zu ei⸗ 
nem unermeßlichen Abgrund von Lei— 
den und Schrecken oͤffnen. Ich be⸗ 
greife nun das alte Maͤhrchen von 
dem Manne, welchen ein Zauberer 
in wenigen Augenblicken viele Jahre 
durchleben ließ: denn ich habe die 
furchtbare Allmacht der Fantaſie an 
mir ſelbſt erfahren. 


250 


Seit dem letzten Briefe deiner 
Schweſter — es find nun drei Ta⸗ 
ge — habe ich die Schmerzen eines 
ganzen Menſchenlebens gefuͤhlt, von 
dem Sonnenlicht der gluͤhenden Ju⸗ 
gend, bis zum blaſſen Mondſchein 
des weißen Alters. 

Jeder kleine Umſtand, den ſie 
mir von deiner Krankheit ſchrieb, 
beſtaͤtigte mich, mit dem was ich in 
der vorigen von dem Arzt gehoͤrt 
und ſelbſt beobachtet hatte, in dem 
Gedanken, ſie ſey weit gefaͤhrlicher, 
als ihr wuͤßtet, ja eigentlich nicht 
mehr gefaͤhrlich, ſondern entſchieden. 
In dieſen Gedanken verloren, alle 
Kraͤfte durch die Unmoͤglichkeit, aus 
der weiten Ferne zu dir zu eilen, 
gelaͤhmt, war mein Zuſtand wirklich 


. r 


251 


ſehr troſtlos. Erſt jetzt weiß ich's 
recht, wie er war, da ich durch die 
froͤhliche Bothſchaft deiner Geſund⸗ 
heit wiedergeboren bin. Denn ge⸗ 
ſund biſt du nun, fo gut als völlig 
geſund. Das ſchließe ich aus allen 
Berichten mit eben der Zuverficht, 
mit der ich vor wenigen Tagen das 
Todesurtheil uͤber uns ausſprach. 
Ich dachte es mir gar nicht als 
noch kuͤnftig oder als geſchehe es 
jetzt. Alles war vergangen; ſchon 
lange warſt du im Schooß der kuͤh⸗ 
len Erde verhuͤllt, Blumen keimten 
allmaͤhlig auf dem geliebten Grabe, 
und meine Thraͤnen floſſen ſchon 
milder. Stumm und einſam ſtand 
ich und ſah nichts als die geliebten 
Züge und die ſuͤßen Blitze der ſpre⸗ 


252 

chenden Augen. Unbeweglich blieb 
dieſes Bild vor mir, nur trat bis⸗ 
weilen das bleiche Geſicht des letzten 
Laͤchelns und des letzten Schlummers 
leiſe an die Stelle, oder plotzlich ver⸗ 
wirrten ſich die verſchiedenen Erinne⸗ 
rungen. Mit unglaublicher Schnelle 
veraͤnderten ſich die Umriſſe, kehrten 
zur erſten Geſtalt zuruͤck, und ver⸗ 
wandelten ſich von neuem, bis der 
uͤberſpannten Einbildung alles ver⸗ 
ſchwand. Nur deine heiligen Augen 
blieben im leeren Raum und ſtan⸗ 
den unbeweglich da, wie die freund⸗ 
lichen Sterne ewig uͤber unſrer Ar⸗ 
muth ſchimmern. Unverruͤckt ſchaute 
ich nach den ſchwarzen Lichtern, die 
mit bekanntem Laͤcheln in die Nacht 
meiner Trauer winkten. Bald brannte 


r- 


253 


ein ſtechender Schmerz aus dunkeln 
Sonnen mit unertraͤglichem Blenden, 
bald ſchwebte und floß ein ſchoͤner 
Glanz, als wollte er mich locken. 
Da war es, als wehte eine friſche 
Morgenluft mich an, ich warf mein 
Haupt in die Hoͤhe, und es rief 
laut in mir: »Warum ſollſt du dich 
älen, in wenigen Augenblicken 
kannſt du ja bei ihr feyn.« | 
Schon eilte ich „ dir zu folgen, 
aber ploͤtzlich hielt mich ein neuer 
Gedanke an, und ich ſagte zu mei⸗ 
nem Geiſt: »Unwuͤrdiger, du kannſt 
nicht einmal die kleinen Diſſonanzen 
ittelmaͤßigen Lebens ertragen 
und du haͤltſt dich ſchon für ein hoͤ⸗ 
heres reif und wuͤrdig? Gehe hin zu 
leiden und zu thun was dein Beruf 


254 


iſt, und melde dich wieder, wenn 

deine Aufträge vollendet find.« — 
Iſt es nicht auch dir auffallend, wie 
alles auf dieſer Erde nach der Mitte 
ſtrebt, wie ſo ordentlich alles iſt, 
wie ſo unbedeutend und kleinlich? 

So ſchien es mir ſtets; daher ver⸗ 
muthe ich — und ich habe dir dieſe 
Vermuthung, wenn ich nicht irre, 
ſchon einmal mitgetheilt, — daß 
unſer naͤchſtes Daſeyn groͤßer, im 
Guten wie im Schlechten kraͤftiger, 
wilder, kuͤhner, ungeheurer ſeyn 
wird. 

Die Pflicht zu leben hatte ge⸗ 
ſiegt, und ich war wieder in dem 
Gewuͤhl des Lebens und der Men: 
ſchen, ihrer und meiner ohnmaͤchti⸗ 
gen Handlungen und fehlervollen 


255 
Werke. Da befiel mich Entſetzen, 
wie wenn ein Sterblicher ſich in der 
Mitte unabſehlicher Eisgebirge ploͤtz— 
lich allein faͤnde. Alles war mir 
kalt und fremd und ſelbſt die Thraͤ⸗ 
ne gefror. 
Wunderliche Welten erſchienen 
und ſchwanden mir im aͤngſtlichen 
Traum. Ich war krank und litt 
iel, aber ich liebte meine Krankheit. 
und hieß ſelbſt den Schmerz willkom⸗ 
men. J te alles Irdiſche und 
freute mich, daß es beſtraft und zer⸗ 
ruͤttet wuͤrde; ich fuͤhlte mich ſo al⸗ 
lein und ſo ſonderbar, und wie ein 
zarter Geiſt oft mitten im Schooß 
des Gluͤcks uͤber ſeine eigne Freude 
wehmuͤthig wird, und uns grade 
auf dem Gipfel des Daſeyns das 


256 


Gefühl feiner Nichtigkeit überfällt, fo 
fchaute ich mit geheimer Luft auf 
meinen Schmerz. Er ward mir zum 
Sinnbilde des allgemeinen Lebens, 
ich glaubte die ewige Zwietracht zu 
fuͤhlen und zu ſehen, durch die alles 
wird und exiſtirt, und die ſchoͤnen 
Geſtalten der ruhigen Bildung ſchie⸗ 
nen mir todt und klein gegen dieſe 
ungeheure Welt von unendlicher Kraft 
und von unendlichem Kampf und 
Krieg bis in die verborgenſten Tie⸗ 
fen des Daſeyns. 

Durch dieſes ſonderbare Gefuͤhl 
ward die Krankheit zu einer eignen 
Welt in ſich vollendet und gebildet. 
f Ich fuͤhlte, ihr geheimnißreiches Le⸗ 
ben ſey voller und tiefer als die ge⸗ 
meine Geſundheit der eigentlich traͤu⸗ 


257 
menden Nachtwandler um mich ber. 
Und mit der Kraͤnklichkeit, die mir 
gar nicht unangenehm war, blieb 
mir auch dieſes Gefuͤhl und ſonderte 
mich voͤllig ab von den Menſchen, 
wie mich von der Erde der Gedan— 
ke trennte, dein Weſen und meine 
Liebe ſey zu heilig geweſen, um nicht 
ihr und ihren groben Banden fluͤch— 
tig zu enteilen. Es ſey alles gut 
ſo und dein nothwendiger Tod nichts 
als ein ſanftes Erwachen nach lei⸗ 
ſem Schlummer. 

Auch ich glaubte zu wachen, 
wenn ich dein Bild anſchaute, das 
ſich immer mehr zu einer heitern 
Reinheit und Allgemeinheit verklaͤr⸗ 
te. Ernſt und doch liebreizend, ganz 


Du und doch nicht mehr Du, die 
Lucinde I. R 


258 


göttliche Geſtalt umſchienen von 
wunderbarem Glanz. Bald war es 
wie der furchtbare Lichtſtrahl der 
ſichtbaren Allmacht und bald ein 
freundlicher Schimmer goldener Kind⸗ 
heit. Mit langen ſtillen Zuͤgen ſog 
mein Geiſt aus der Quelle der kuͤh⸗ 
len reinen Gluth, ſich heimlich berau⸗ 
ſchend und in dieſer ſeeligen Trun⸗ 
kenheit fuͤhlte ich eine geiſtliche Wuͤr⸗ 
de eigner Art, weil mir in der That 
jede weltliche Geſinnung ganz frem⸗ 
de war und mich niemals das Ge⸗ 
fuͤhl verließ, daß ich dem Tode ge⸗ 
weiht ſey. 

Langſam floſſen die Jahre und 
muͤhevoll trat eine That nach der 
andern, ein Werk und dann wieder 
eines an ſein Ziel, das ſo wenig 


259 
das meinige war als ich jene Tha— 
ten und Werke für das, was fie hei⸗ 
ßen, nahm. Es waren mir nur bei: 
lige Sinnbilder, alles Beziehungen 
auf die eine Geliebte, die die Mitt: 
lerin war z wiſchen meinem zer rſtück⸗ 
ten Ich und der untheilbaren ewi— 
gen Menſchheit; das ganze Daſeyn 
ein ſteter Gottesdienſt einſamer Liebe. 

Endlich nahm ich wahr, das ſey 
nun das lezte. Die Stirn war nicht 
mehr glatt und die Locken wurden 
bleich. Meine Laufbahn war geen⸗ 
digt aber nicht vollendet. Die beſte 
Kraft des Lebens war dahin und 
noch ſtand die Kunſt und die Tu⸗ 
gend ewig unerreichbar vor mir. 
Ich waͤre verzweifelt, haͤtte ich nicht 
beyde in Dir geſehn und vergoͤttert, 

R 2 


260 


holdſelige Madonna! und Dich und 
Deine milde Goͤttlichkeit in mir. 


Da erſchienſt Du mir bedeutend 
und winkteſt toͤdtlich. Schon ergriff 
mich ein herzliches Verlangen nach 
Dir und nach der Freyheit; ich ſehn⸗ 
te mich nach dem geliebten alten Va⸗ 
terlande und wollte eben den Staub 
der Reiſe von mir ſchuͤtteln, als ich 
wieder ins Leben gerufen ward durch 
das Verheißen und die Gewißheit 
Deiner Geneſung. 


Nun ward ich meines wachen 
Traums inne, erſchrack uͤber alle die 
bedeutenden Beziehungen und Ahn⸗ 
lichkeiten und ſtand aͤngſtlich an dem 
unſichtbaren Abgrund dieſer innern 
Wahrheit. | 


261 


Weißt Du was mir am meiften 
klar dadurch geworden iſt? — Zuerſt, 
daß ich Dich vergdttre, und daß es 
gut iſt, daß ich ſo thue. Wir bey⸗ 
de ſind eins und nur dadurch wird 
der Menſch zu einem und ganz er 
ſelbſt, wenn er ſich auch als Mittel⸗ 
punkt des Ganzen und Geiſt der 
Welt anſchaut und dichtet. Doch 
warum dichtet, da wir den Keim 
zu allem in uns finden und doch 
ewig nur ein Stuͤck von uns ſelbſt 

Und dann weiß ichs nun, daß 
der Tod ſich auch ſchoͤn und ſuͤß 
fuͤhlen laͤßt. Ich begreife, wie das 
freye Gebildete ſich in der Bluͤthe 
aller Kräfte nach feiner Aufloͤſung 
und Freyheit mit ſtiller Liebe ſehnen 


262 


und den Gedanken der Ruͤkkehr freu⸗ 
dig anſchauen kann wie eine Mor⸗ 
genſonne der Hoffnung. 


Eine Reflexion. 


Es iſt meinem Gemuͤth nicht ſel⸗ 
ten ſonderbar aufgefallen, wie ver⸗ 
fländige und wuͤrdige Menſchen mit 
nie ermuͤdender Induſtrie und mit 
ſo großem Ernſt das kleine Spiel 
in ewigem Kreislauf immer von 
neuem wiederholen koͤnnen, welches 
doch offenbar weder Nutzen bringt 
noch ſich einem Ziele naͤhert, obgleich 
es das fruͤhſte aller Spiele ſeyn 
mag. 

Dann fragte mein Geiſt, was 
wohl die Natur, die uͤberall ſo viel 
denkt, die Liſt im Großen treibt und 


263 


ſtatt witzig zu reden, gleich witzig 
handelt, bey jenen naiven Andeu⸗ 
tungen denken mag, welche gebilde- 
te Redner nur durch ihre Namenlo— 
ſigkeit benennen. 

Und dieſe Namenloſigkeit ſelbſt 
iſt von zweydeutiger Bedeutung. Je 
verſchaͤmter und je moderner man 
iſt, je mehr wird es Mode ſie aufs 
Schamloſe zu deuten. Für die als 
ten Goͤtter hingegen hat alles Le— 
ben eine gewiſſe claſſiſche Wuͤrde 
und ſo auch die unverſchaͤmte Hel⸗ 
denkunſt lebendig zu machen. Die 
Menge ſolcher Werke und die Grö- 
ße der Erfindungskraft in ihr be⸗ 
ſtimmt Rang und Adel im Reiche 
der Mythologie. 

Dieſe Zahl und dieſe Kraft ſind 


264 


gut, aber fie find nicht das Höchfte. 
Wo ſchlummert alſo das erfehnte 
Ideal verborgen? Oder findet das 
ſtrebende Herz in der hoͤchſten aller 
darſtellenden Kuͤnſte ewig nur andre 
Manieren und nie einen vollendeten 
Styl? 

Das Denken hat die Eigenheit, 
daß es naͤchſt ſich ſelbſt am liebſten 
uͤber das denkt, woruͤber es ohne 
Ende denken kann. Darum iſt das 
Leben des gebildeten und ſinnigen 
Menſchen ein ſtetes Bilden und Sin⸗ 
nen uͤber das ſchoͤne Raͤthſel ſeiner 
Beſtimmung. Er beſtimmt ſie im⸗ 
mer neu, denn eben das iſt ſeine 
ganze Beſtimmung, beſtimmt zu wer⸗ 
den und zu beſtimmen. Nur in ſei⸗ 
nem Suchen ſelbſt findet der Geiſt 


265 
des Menfchen das Geheimniß, wel: 
ches er ſucht. 

Was iſt denn aber das Beſtimmen⸗ 
de oder das Beſtimmte ſelbſt? In 
der Maͤnnlichkeit iſt es das Namen⸗ 
loſe. Und was iſt das Namenloſe 
in der Weiblichkeit? — das Unbe⸗ 
ſtimmte. 

Das Unbeſtimmte iſt geheimniß⸗ 
reicher, aber das Beſtimmte hat 
mehr Zauberkraft. Die reizende Ver⸗ 
wirrung des Unbeſtimmten iſt ro= 
mantiſcher, aber die erhabene Bil: 
dung des Beſtimmten iſt genialiſcher. 
Die Schoͤnheit des Unbeſtimmten iſt 
vergaͤnglich wie das Leben der Blu— 
men und wie die ewige Jugend 
ſterblicher Gefuͤhle; die Energie des 
Beſtimmten iſt voruͤbergehend wie 


266 


das Achte Ungewitter und die aͤchte 
Begeiſterung. 

Wer kann meſſen und wer kann 
vergleichen, was eines wie das an⸗ 
dre unendlichen Werth hat, wenn 
beydes verbunden iſt in der wirkli⸗ 
chen Beſtimmung, die beſtimmt iſt, 
alle Luͤcken zu ergaͤnzen und Mittle⸗ 
rin zu ſeyn zwiſchen dem maͤnnli⸗ 
chen und weiblichen Einzelnen und 
der unendlichen Menſchheit? 

Das Beſtimmte und das Unbe⸗ 
ſtimmte und die ganze Fuͤlle ihrer 
beſtimmten und unbeſtimmten Bezie⸗ 
hungen; das iſt das Eine und Gan⸗ 
ze, das iſt das wunderlichſte und 
doch das einfachſte, das einfachſte 
und doch das hoͤchſte. Das Univer⸗ 
ſum ſelbſt iſt nur ein Spielwerk des 


267 


Beſtimmten und des Unbeſtimmten, 
und das wirkliche Beſtimmen des 
Beſtimmbaren iſt eine allegoriſche 
Miniatur auf das Leben und We— 
ben der ewig ſtroͤmenden Schoͤp⸗ 
fung. 

Mit ewig unwandelbarer Symme⸗ 
trie ſtreben beyde auf entgegenge⸗ 
ſetzten Wegen ſich dem Unendlichen 
zu naͤhern und ihm zu entfliehen. Mit 
leiſen aber ſichern Fortſchritten er⸗ 
weitert das Unbeſtimmte ſeinen an— 
gebohrnen Wunſch aus der ſchoͤnen 
Mitte der Endlichkeit ins Graͤnzen⸗ 
loſe. Das vollendete Beſtimmte hin- 
gegen wirft ſich durch einen kuͤhnen 
Sprung aus dem ſeeligen Traum 
des unendlichen Wollens in die 
Schranken der endlichen That und 


268 


nimmt, fich felbft verfeinernd, immer 
zu an großmuͤthiger Selbſtbeſchraͤn⸗ 
kung und ſchoͤner Genuͤgſamkeit. 

Auch in dieſer Symmetrie offen⸗ 
bart ſich der unglaubliche Humor, 
mit dem die conſequente Natur ih⸗ 
re allgemeinſte und einfachſte Anti⸗ 
theſe durchfuͤhrt. Selbſt in der zier⸗ 
lichſten und kuͤnſtlichſten Organiſa⸗ 
zion zeigen ſich dieſe komiſche Spi⸗ 
tzen des großen Ganzen mit ſchalk⸗ 
hafter Bedeutſamkeit wie ein ver⸗ 
kleinertes Portrait und geben aller In⸗ 
dividualitaͤt, die allein durch ſie und 
den Ernſt ihrer Spiele entſtehet und 
beſtehet, die letzte Rundung und 
Vollendung. 

Durch dieſe Individualitaͤt und 
jene Allegorie bluͤht das bunte Ideal 


269 


wigiger Sinnlichkeit hervor aus dem 
Streben nach dem Unbedingten. 
Nun iſt alles klar! Daher die 
Allgegenwart der namenloſen unbe⸗ 
kannten Gottheit. Die Natur ſelbſt 
will den ewigen Kreislauf immer 
neuer Verſuche; und ſie will auch, 
daß jeder einzelne in ſich vollendet 


bild der hoͤchſten untheilbaren Indi⸗ 

vidualitaͤt. 

| Sich vertiefend in dieſe Indivi— 
dualitaͤt nahm die Reflexion eine ſo 

individuelle Richtung, daß ſie bald 

anfing aufzuhoͤren und ſich ſelbſt zu 

vergeſſen. 


— 
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270 


»Was ſollen mir diefe Anſpielun⸗ 
gen, die mit unverſtaͤndlichem Ver⸗ 
ſtand nicht an der Graͤnze ſondern 
bis in die Mitte der Sinnlichkeit 
nicht ſpielen ſondern widerſinnig ſtrei⸗ 
ten? f 

So wirſt Du und wuͤrde Julia⸗ 
ne zwar nicht ſagen aber doch ge⸗ 
wiß fragen. 

Liebe Geliebte! darf der volle 
Blumenſtrauß nur ſittſame Roſen, 
ſtille Vergißmeinnicht und beſcheidne 
Veilchen zeigen, und was ſonſt 
maͤdchenhaft und kindlich bluͤht, oder 
auch alles andre, was in bunter 
Glorie ſonderbar ftrahlt? 

Die maͤnnliche Ungeſchicklichkeit 
iſt ein mannigfaltiges Weſen und 
reich an Bluͤthen und Fruͤchten jeder 


r Re Zn X 


271 


Art. Goͤnne ſelbſt der wunderlichen 
Pflanze, die ich nicht nennen will, 
ihre Stelle. Sie dient wenigſtens 
zur Folie fuͤr die hellbrennende Gra— 
nate und die lichten Orangen. Oder 
ſoll es etwa ſtatt dieſer bunten Fuͤlle 
nur eine vollkommne Blume geben, 
welche alle Schoͤnheiten der uͤbrigen 
vereint und ihr Dafeyn überflüffig 
macht? 

Ich entſchuldige nicht, was ich 
lieber ſogleich noch einmal thun will, 
mit vollem Zutrauen auf Deinen ob— 
jektiven Sinn fuͤr die Kunſtwerke 
der Ungeſchicklichkeit, welche den 
Stoff zu dem, was ſie bilden will, 
oft nicht ungern von der maͤnnlichen 
Begeiſterung entlehnt. 

Es iſt ein zaͤrtliches Furioſo und 


272 


ein kluges Adagio der Freundſchaft. 
Du wirſt verſchiednes daraus lernen 
koͤnnen: daß Maͤnner mit ungemei⸗ 
ner Delicateſſe zu haſſen verſtehn, 
wie ihr zu lieben; daß ſie dann ei⸗ 
nen Zank, wenn er vollendet iſt, in 
eine Diſtinetion umbilden, und daß 
Du ſo viele Anmerkungen daruͤber 
machen darfſt als Dir gefällig iſt. 


Julius an Antonio. 


1.5 

Du haſt Dich ſehr veraͤndert 
ſeit einiger Zeit! Sieh Dich vor, 
Freund, daß der Sinn für das Gro⸗ 
ße Dir nicht abhanden kommt, ehe 
Du es gewahr wirſt. Was ſoll das 
geben? Du wirſt endlich ſo viel Zart⸗ 
heit und Feinheit anſetzen, daß Herz 
und 


. en 4 5 


273 
und Gefühl drauf geht. Wo bleibt 
da die Männlichkeit und handelnde 
Kraft? — Ich werde noch dahin 
kommen, Dir zu thun wie Du mir 
thuſt, ſeit wir nicht mehr mit ein— 
ander ſondern neben einander leben. 
Ich werde dir Graͤnzen ſetzen muͤſ— 
ſen und ſagen, wenn er auch Sinn 
fuͤr alles hat, was ſonſt ſchoͤn iſt, 
ſo fehlt ihm doch der eine fuͤr die 
Freundſchaft. Doch werde ich den 
Freund und ſein Thun und Laſſen 
nie moraliſch kritiſiren; wer das 
kann, der verdient nicht das hohe 
ſeltne Gluͤck einen zu haben. 

Daß Du Dich zuerſt an Dir 
ſelbſt vergreifſt, macht die Sache 
nur ſchlimmer. Sage mir im Ernſt, 


ſuchſt Du die Tugend in dieſen kuͤh— 
Lucinde I. S 


274 

len Spitzfindigkeiten des Gefuͤhls, 
in dieſen Kunſtuͤbungen des Ge⸗ 
muͤths, die den Menſchen aushoͤhlen 
und am vollen Mark ſeines Lebens 
zehren? 

Schon lange war ich ergeben 
und ſtill. Ich zweifelte gar nicht, 
daß Du, da Du ſo vieles weißt, 
auch wohl die Urſachen wiſſen wuͤr⸗ 
deſt, durch die unſre Freundſchaft un⸗ 
tergegangen iſt. Faſt ſcheint es, ich 
habe mich geirrt, da du ſo erſtau⸗ 
nen konnteſt, daß ich mich ganz an 
Eduard anſchließen will, da Du 
gleichſam nicht begreifend zu fragen 
ſchienſt, wodurch Du mich denn be⸗ 
leidigt haͤtteſt. Wenn es nur das 
waͤre, nur etwas einzelnes, dann 
waͤre es den Mislaut einer ſolchen 


275 
Frage nicht werth, dann würde fichs 
von ſelbſt beantworten und ausglei⸗ 
chen. Iſt es aber nicht mehr, wenn 
ich bey jeder Veranlaßung es immer 
wieder als Entweihung fuͤhlen muß, 
daß ich Dir alles von Eduard, wie 
es vorfiel, mittheilte? Gethan haſt 
Du freilich nichts gegen ihn, auch 
nicht laut geſagt: aber ich weiß und 
ſehe recht gut, wie Du denkſt. Und 
wenn ich es nicht wuͤßte und ſaͤhe, 
was waͤre denn die unſichtbare Ge— 
meinſchaft unſrer Geiſter und die 
ſchoͤne Magie dieſer Gemeinſchaft? — 
Es kann Dir gewiß nicht einfallen, 
Dich hier noch laͤnger zuruͤckziehen 
und durch bloße Feinheit das Mis⸗ 
verſtaͤndniß in Nichts aufloͤſen zu 

S 2 


276 


wollen: denn ſonſt hätte auch ich 
wirklich nichts weiter zu ſagen. 
Unſtreitig ſeyd ihr durch eine 
ewige Kluft geſchieden. Die ruhige 
klare Tiefe Deines Weſens, und der 
heiße Kampf ſeines raſtloſen Lebens 
liegen an den entgegengeſetzten En⸗ 
den des menſchlichen Daſeyns. Er 
iſt ganz Handlung, Du biſt eine fuͤh⸗ 
lende und beſchauende Natur. Dar⸗ 
um ſollteſt Du eben Sinn fuͤr alles 
haben und haſt ihn auch, wo Du 
Dich nicht ſelbſt abſichtlich verſchlie⸗ 
ßeſt. Und das verdruͤßt mich ei⸗ 
gentlich. Moͤchteſt Du den Herrli⸗ 
chen lieber haſſen als verkennen! — 
Aber wohin ſoll es fuͤhren, wenn 
man ſich unnatuͤrlich gewoͤhnt, das 
wenige Große und Schoͤne, was noch 


277 
etwa da ift, fo gemein zu nehmen, 
als es der Scharffinn nur immer 
nehmen kann, ohne die Anſpruͤche 
auf den Sinn aufzugeben? — Was 
man uͤberall ſehn will, muß man 
endlich ſelbſt werden. 

Iſt das die geruͤhmte Vielſeitig⸗ 
keit? — Freilich beobachteſt Du da⸗ 
bey den Grundſatz der Gleichheit, 
und einem gehts nicht viel beſſer wie 
dem andern; nur daß jeder auf ei: 
ne eigne Art verkannt wird. Haſt 
Du nicht auch mein Gefuͤhl gezwun⸗ 
gen über das, was ihm das heilig— 
ſte iſt, ewig zu ſchweigen gegen Dich 
wie gegen jeden andern? Und das 
darum, weil Du Dein Urtheil nicht 
ſchweigen laſſen konnteſt bis es Zeit 
war, und weil Dein Verſtand uͤber⸗ 


278 


all Graͤnzen erdichtet, ehe er feine 
eigenen finden kann. Du haft mich 
beynah in den Fall gebracht, Dir 
auseinanderſetzen zu muͤſſen, wie 
groß eigentlich mein Werth ſey, wie 
viel richtiger und ſichrer Du gegan⸗ 
gen ſeyn wuͤrdeſt, wenn Du dann 
und wann nicht geurtheilt ſondern 
geglaubt, wenn Du hie und da in 
mir ein unbekanntes Unendliches vor⸗ 
ausgeſetzt hätteft. 

Freilich iſt meine eigne Nachlaͤ⸗ 
ßigkeit an allem Schuld. Vielleicht 
wars auch Eigenſinn, daß ich die 
ganze Gegenwart mit Dir theilen 
wollte, und Dich uͤber Vergangen⸗ 
heit und Zukunft doch nicht belehr⸗ 
te. Ich weiß nicht, es widerſtand 
meinem Gefuͤhl, auch hielt ichs fuͤr 


279 


überflüßig, denn ich traute Dir in 
der That unendlich viel Verſtand zu. 

O Antonio, wenn ich an ewigen 
Wahrheiten zweifeln koͤnnte, jo haͤt⸗ 
teſt Du mich dahin gebracht, jene 
ſtille ſchoͤne Freundſchaft, die auf der 
bloßen Harmonie des Seyns und 
Zuſammenſeyns beruht, für etwas fal⸗ 
ſches und verkehrtes zu halten! 

Iſt es nun noch unbegreiflich, 
wenn ich mich ganz auf die andre 
Seite werfe? — Ich entſage dem 
zarten Genuß und ſtuͤrze mich in 
den wilden Kampf des Lebens. Ich 
eile zu Edugrd. Alles iſt verabre⸗ 
det. Wir wollen nicht bloß zuſam⸗ 
men leben, ſondern im bruͤderlichen 
Bunde vereint wirken und handeln. 
Er iſt rauh und herbe, ſeine Tugend 


280 


iſt mehr Eräftig als empfindſam: 
aber er hat ein maͤnnliches großes 
Herz, und in jedem beſſern Zeitalter 
waͤre er, das ſage ich kuͤhn, ein 
Held geweſen. 


II. 


Es iſt wohl ſchoͤn, daß wir end⸗ 
lich einmal wieder mit einander ge⸗ 
ſprochen haben; ich bin es auch zu⸗ 
frieden, daß Du durchaus nicht ſchrei⸗ 
ben wollteſt, und auf die armen un⸗ 
ſchuldigen Buchſtaben ſchiltſt, weil 
Du wirklich zum Sprechen mehr Ge⸗ 
nie haſt. Aber ich habe doch noch 
eins und das andre auf dem Her⸗ 
zen, was ich nicht ſagen konnte und 
was ich verſuchen will, Dir bee 
anzudeuten. 


281 

Warum aber auf diefem We 
ge? — O mein Freund, wenn ich 
nur noch ein feineres gebildeteres 
Element der Mittheilung wuͤßte, um 
das, was ich moͤchte, in zarter Huͤlle 
leiſe aus der Ferne zu ſagen! Das 
Geſpraͤch iſt mir zu laut und zu 
nah und auch zu einzeln. Dieſe 
einzelnen Worte geben immer wieder 
nur eine Seite, ein Stuͤck von dem 
Zuſammenhange, von dem Ganzen, 
das ich in ſeiner vollen Harmonie 
andeuten moͤchte. 

Und koͤnnen Maͤnner, die zuſam⸗ 
men leben wollen, zu zart gegen 
einander in ihrem Umgange ſeyn? — 
Es iſt nicht als ob ich befuͤrchtete, 
etwas zu heftiges zu ſagen, und 
daß ich darum gewiſſe Perſonen und 


282 


gewiſſe Gegenftände in unſerm Ge⸗ 
ſpraͤch vermied. Daruͤber, denke ich, 
iſt ja wohl die Graͤnzſcheidung zwi⸗ 
ſchen uns auf immer vernichtet! 

Was ich Dir noch ſagen wollte, 
iſt etwas ganz Allgemeines; und 
doch waͤhle ich lieber dieſen Um⸗ 
weg. Ich weiß nicht, ob es eine 
falſche oder eine wahre Delieateſſe 
iſt, aber es wuͤrde mir ſchwer fallen, 
viel von der Freundſchaft mit Dir 
zu reden von Angeſicht zu Angeſicht. 

Und doch ſinds Gedanken uͤber 
dieſe, die ich Dir ſagen muß. Die 
Anwendung — und auf die kommt 
es am meiſten an — wirſt Du leicht 
ſelbſt machen koͤnnen. 

Fuͤr mein Gefuͤhl giebts zwey 


Arten von Freundſchaft. — 


r 


283 


Die erſte iſt ganz äußerlich. Un: 
erfättlich eilt fie von That zu That 
und nimmt jeden wuͤrdigen Mann 
auf in den großen Bund vereinter 
Helden, ſchlingt den alten Knoten 
durch jede Tugend feſter, und trach— 
tet ſtets neue Bruͤder zu gewinnen; 
je mehr ſie hat, je mehr begehrt ſie. 


* 


ea 
|. 
— 


Erinnre Dich an die Vorwelt 
und Du wirſt dieſe Freundſchaft, die 
den redlichen Krieg gegen alles Boͤ⸗ 
ſe, wenn es auch in uns oder im 
Geliebten waͤre, kaͤmpft, uͤberall fin⸗ 
den, wo die edle Kraft in großen 
Maſſen wirkt und Welten bildet oder 
beherrſcht. 


Jetzt ſind andre Zeiten, aber das 
Ideal dieſer Freundſchaft wird in 


284 


mir ſeyn, jo lange wie ich ſelbſt ſeyn 
werde. 

Die andre Freundſchaft iſt ganz 
innerlich. Eine wunderbare Symme⸗ 
trie des Eigenthuͤmlichſten, als wenn 
es vorher beſtimmt waͤre, daß man 
ſich uͤberall ergaͤnzen ſollte. Alle 
Gedanken und Gefühle werden ge⸗ 
ſellig durch die gegenſeitige Anre⸗ 
gung und Ausbildung des Heilig⸗ 
ſten. Und dieſe reingeiſtige Liebe, 
dieſe ſchoͤne Myſtik des Umgangs 
ſchwebt nicht bloß als fernes Ziel 
vor einem vielleicht vergeblichen 
Streben. Nein, ſie iſt nur vollendet 
zu finden. Auch hat da keine Taͤu⸗ 
ſchung Statt, wie bey jener andern 
heroiſchen. Ob die Tugend eines 
Mannes Stich haͤlt, muß die That 


285 


lehren. Aber wer ſelbſt in feinem 
Innern die Menſchheit und die Welt 
fuͤhlt und ſieht, der wird nicht leicht 
allgemeinen Sinn und allgemeinen 
Geiſt da ſuchen koͤnnen, wo er nicht 
iſt. 

Zu dieſer Freundſchaft iſt nur 
faͤhig, wer in ſich ganz ruhig wur⸗ 
de und in Demuth die Göttlichkeit 
des andern zu ehren weiß. 

Haben die Goͤtter einem Men— 
ſchen eine ſolche Freundſchaft ge— 
ſchenkt, ſo kann er weiter nichts, 
als ſie mit Sorge vor allem was 
aͤußerlich iſt bewahren und das hei— 
lige Weſen ſchonen. Denn vergaͤng⸗ 
lich iſt die zarte Bluͤthe. 


286 


Sehnſucht und Ruhe. 


Leicht bekleidet ſtanden Lueinde 
und Julius am Fenſter im Pavillon, 
erfriſchten ſich an der kuͤhlen Mor⸗ 
genluft und waren verloren im An⸗ 
ſchaun der aufſteigenden Sonne, die 
von allen Voͤgeln mit munterem Ge⸗ 
ſang begruͤßt ward. 

Julius, fragte Lueinde, warum 
fuͤhle ich in ſo heitrer Ruhe die tiefe 
Sehnſucht? — Nur in der Sehn⸗ 
ſucht finden wir die Ruhe, antworte⸗ 
te Julius. Ja die Ruhe iſt nur das, 
wenn unſer Geiſt durch nichts ge⸗ 
ſtoͤrt wird, ſich zu ſehnen und zu 
ſuchen, wo er nichts hoͤheres finden 
kann als die eigne Sehnfucht. 


287 


Nur in der Ruhe der Nacht, 
ſagte Lueinde, gluͤht und glaͤnzt die 
Sehnſucht und die Liebe hell und 
voll wie dieſe herrliche Sonne. — 
Und am Tage, erwiederte Julius, 
ſchimmert das Gluͤck der Liebe blaß, 
ſo wie der Mond nur ſparſam leuch— 
tet. — Oder es erſcheint und ſchwin— 
det ploͤtzlich ins allgemeine Dunkel, 
fuͤgte Lueinde an, wie jene Blitze, 
die uns das Gemach erhellten, da 
der Mond verhuͤllt war. 

Nur in der Nacht ſingt Klagen, 
ſprach Julius, die kleine Nachtigall 
und tiefe Seufzer. Nur in der Nacht 
eroͤffnet ſich die Blume ſchuͤchtern 
und athmet frey den ſchoͤnſten Duft, 
um Geiſt und Sinne in gleicher 
Wonne zu berauſchen. Nur in der 


288 


Nacht, Lucinde, ſtroͤmt tiefe Liebes⸗ 
glut und kuͤhne Rede goͤttlich von 
den Lippen, die im Geraͤuſch der Ta⸗ 
ge ihr ſuͤßes Heiligthum mit zartem 
Stolz verſchließen. 

Lucinde. 

Nicht ich, mein Julius, bin die, 
die Du ſo heilig mahlſt; obſchon 
ich klagen moͤchte wie die Nachtigall 
und, wie ich innig fuͤhle, nur der 
Nacht geweiht bin. Du biſts, es iſt 
die Wunderblume Deiner Fantaſie, 
die Du in mir, die ewig Dein iſt, 
dann erblickſt, wenn das Gewuͤhl 
verhuͤllt iſt und nichts gemeines Dei⸗ 
nen hohen Geiſt zerſtreut. 

Julius. 

Laß die Beſcheidenheit und ſchmei⸗ 
chle nicht. Gedenke, Du biſt die 

| Prie⸗ 


289 


| Priefterin der Nacht. Im Strahl 
der Sonne ſelbſt verkuͤndigts der 
dunkle Glanz der vollen Locken, der 
ernſten Augen lichtes Schwarz, der 
hohe Wuchs, die Majeſtaͤt der Stirn 
und aller edlen Glieder. 


Lueinde. 

Die Augen ſinken, indem Du 

ruͤhmſt, weil jetzt der laute Morgen 

| blendet, und luſtger Vögel buntes 
| Lied die Seele ſtoͤrt und ſchreckt. 
5 Sonſt möchte wohl das Ohr in ſtil⸗ 
| ler dunkler Abendkuͤhle des fügen 
Freundes ſuͤße Rede gierig trinken. 


Julius. 
Es iſt nicht eitle Fantaſie. Un⸗ 
endlich iſt nach Dir und ewig uner⸗ 


reicht mein Sehnen. 


Lucinde I. 18 


290 


Lucinde. | 
01% iu 15 ſey, Du if. der 
det. 

Julius. 
Die heilge e Nube kad ich Mi in 
jenem Sehnen, Freundin. 
Lueinde. 
| Und ich in dieſer ſchoͤnen Ruhe 
jene heilge Sehnſucht. 
Julius. 

Ach, daß das harte Licht den 
Schleyer heben darf, der dieſe Flam⸗ 
men ſo verhuͤllte, daß der Sinne 
Scherz die heiße Seele kuͤhlend lin— 
dern mochte! 

Lueinde. 

So wird einſt ewig kalter ern⸗ 

ſter Tag des Lebens warme Nacht 


291 
zerreißen, wenn Jugend flieht und 
wenn ich Dir entſage, wie Du der 
großen Liebe groͤßer einſt entſagteſt. 


Julius. 

Daß ich doch Dir die unbekann⸗ 
te Freundin zeigen duͤrfte und ihr 
das Wunder meines wunderbaren 
Gluͤcks. 


gucinde, 


ewig mein auch ewig lieben. Das 
iſt das große Wunder Deines wun⸗ 
derbaren Herzens. 

Julius. 

Nicht wunderbarer als das Dei— 
ne. Ich ſehe Dich an meine Bruſt 
gelehnt mit Deines Guido Locke ſpie⸗ 
len; uns beyde bruͤderlich vereint 

T 2 


>: 


292 


die wuͤrdge Stirn mit ewgen Freu⸗ 
dekraͤnzen zieren. 

10 Lueinde. 

Laß ruhn in Nacht, reiß nicht 
ans Licht, was in des Herzens ſtiller 
Tiefe heilig bluͤht. 

Julius. 

Wo mag des Lebens Woge 
mit dem Wilden ſcherzen, den zart 
Gefuͤhl und wildes Schickſal heftig 
fortriß in die herbe Welt? 

Lueinde. 

Verklaͤrt und einzig glaͤnzt der 
hohen Unbekannten reines Bild am 
blauen Himmel Deiner reinen Seele. 

Julius. 

O ewge Sehnſucht! — Doch 
endlich wird des Tages fruchtlos 
Sehnen, eitles Blenden ſinken und 


293 


erlöfchen, und eine große Liebesnacht 
ſich ewig ruhig fuͤhlen. 
Lueinde. 

So fuͤhlt ſich, wenn ich ſeyn 

darf wie ich bin, das weibliche Ge⸗ 


ſehnt ſich nur nach Deinem Sehnen, 
iſt ruhig wo Du Ruhe findeſt. 


Taͤndeleyen der Fantaſie. 
Durch die ſchweren lauten An— 
ſtalten zum Leben wird das zarte 
Goͤtterkind Leben ſelbſt verdraͤngt und 
jaͤmmerlich erſtickt in der Umarmung 
der nach Affenart liebenden Sorge. 
Abſichten haben, nach Abſichten 
handeln, und Abſichten mit Abſichten 
zu neuer Abſicht kuͤnſtlich verweben: 
dieſe Unart iſt fo tief in die naͤrri⸗ 


294 


ſche Natur des gottähnlichen Men: 
ſchen eingewurzelt, daß er ſichs nun 
ordentlich vorſetzen und zur Abſicht 
machen muß, wenn er ſich einmal 
ohne alle Abſicht, auf dem innern 
Strom ewig fließender Bilder und 
Gefuͤhle frey bewegen will. 

Es iſt der Gipfel des Verſtandes, 
aus eigner Wahl zu ſchweigen, die 
Seele der Fantaſie wiederzugeben 
und die ſuͤßen Taͤndeleyen der jun⸗ 
gen Mutter mit ihrem Shogi 
nicht zu ſtoͤren. 

Aber ſo verſtaͤndig iſt der Ver⸗ 
ſtand nach dem goldnen Zeitalter ſei⸗ 
ner Unſchuld nur ſehr ſelten. Er 
will die Seele allein beſitzen; auch 
wenn ſie waͤhnt allein zu ſeyn mit 
ihrer angebohrnen Liebe, lauſcht er 


295 


im Verborgnen und ſchiebt an die 
Stelle der heiligen Kinderſpiele nur 
Erinnerung an ehemalige Zwecke 
oder Ausſichten auf kuͤnftige. Ja 
er weiß den hohlen kalten Taͤuſchun⸗ 
gen einen Anſtrich von Farbe und 
eine fluͤchtige Hitze zu geben und 
will durch ſeine nachahmende Kunſt 
der argloſen Fantaſie ihr eigenſtes 
Weſen rauben. 

Aber die jugendliche Seele laͤßt 
ſich durch die Argliſt des Altklugen 
nicht bethoͤren, und immer ſieht ſie 
den Liebling ſpielen mit den ſchoͤnen 
Bildern der ſchoͤnen Welt. Willig 
laͤßt ſie ihre Stirn umflechten von 
den Kraͤnzen, die das Kind aus den 
Bluͤthen des Lebens flicht, und wil— 
lig laßt fie ſich in wachen Schlum⸗ 


296 


mer ſinken, Muſik der Liebe traͤu⸗ 
mend, und geheimnißvoll freundliche 
Goͤtterſtimmen vernehmend, wie die 
einzelnen Laute einer fernen Ro⸗ 
manze. 

Alte wohlbekannte Gefuͤhle toͤ— 
nen aus der Tiefe der Vergangen: 
heit und Zukunft. Leiſe nur beruͤh⸗ 
ren ſie den lauſchenden Geiſt und 
ſchnell verlieren ſie ſich wieder in 
den Hintergrund verſtummter Muſik 
und dunkler Liebe. Alles liebt und 
lebt, klaget und freut ſich in ſchoͤner 
Verwirrung. Hier oͤffnen ſich am 
rauſchenden Feſt die Lippen aller 
Froͤhlichen zu allgemeinem Geſange; 
und hier verſtummt das einſame 
Maͤdchen vor dem Freunde, dem ſie 
ſich vertrauen moͤchte, und verſagt 


297 
den Kuß mit laͤchelndem Munde. 
Gedankenvoll ſtreue ich Blumen auf 
das Grab des zu fruͤh entſchlafnen 
Sohnes, die ich bald voll Freude und 
voll Hoffnung der Braut des ge— 
liebten Bruders darreiche, waͤhrend 
die hohe Prieſterin mir winkt und 
mir die Hand reicht zu ernſtem Bun⸗ 
de, bey dem ewig reinen Feuer ewi⸗ 
ge Reinheit und ewige Begeiſterung 
zu geloben. Ich enteile dem Altar 
und der Prieſterin, um das Schwerdt 
zu ergreifen und mit der Schaar 
der Helden in den Kampf zu ſtuͤrzen, 
den ich bald vergeſſe, wo ich in tief⸗ 
ſter Einſamkeit nur den Himmel und 
mich beſchaue. 

Welche Seele ſolche Traͤume 
ſchlummert, die traͤumt ſie ewig fort, 


—— 


298 


auch wenn ſie erwacht iſt. Sie fuͤhlt 
ſich umſchlungen von den Bluͤthen 
der Liebe, ſie huͤtet ſich wohl die lo⸗ 
ſen Kraͤnze zu zerreißen, ſie giebt ſich 
gern gefangen und weiht ſich ſelbſt 
der Fantaſie und laͤßt ſich gern be⸗ 
herrſchen von dem Kinde, das alle 
Mutterſorgen durch ſeine ſuͤßen Taͤn⸗ 
deleyen lohnt. 6 

Dann zieht ſich ein friſcher Hauch 
von Jugendbluͤthe uͤber das ganze 
Daſeyn und ein Heiligenſchein von 
kindlicher Wonne. Der Mann ver⸗ 


goͤttert die Geliebte, die Mutter das 
Kind und alle den ewigen Men⸗ 


/ ſchen. 


Nun verſteht die Seele die Kla⸗ 
ge der Nachtigall und das Laͤcheln 
des Neugebohrenen, und was auf 


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Blumen wie an Sternen ſich in ge: 


heimer Bilderſchrift bedeutſam offen: 


bart, verſteht ſie; den heiligen Sinn 
des Lebens wie die ſchoͤne Sprache 
der Natur. Alle Dinge reden zu 
ihr und überall ſieht fie den liebli⸗ 
chen Geiſt durch die zarte Huͤlle. 
Auf dieſem feſtlich geſchmuͤckten 
Boden wandelt ſie den leichten Tanz 
des Lebens, ſchuldlos und nur be— 
ſorgt dem Rhythmus der Geſellig⸗ 
keit und Freundſchaft zu folgen und 
keine Harmonie der Liebe zu ſtoͤren. 
Dazwiſchen ewger Geſang, von 
dem ſie nur dann und wann ein— 
zelne Worte vernimmt, welche noch 
hoͤhere Wunder verrathen laſſen. 
Immer ſchoͤner umgiebt ſie die⸗ 
ſer Zauberkreis. Sie kann ihn nie 


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verlaffen und was fie bildet oder 
ſpricht, lautet wie eine wunderbare 
Romanze von den ſchoͤnen Geheim⸗ 
niſſen der kindlichen Goͤtterwelt, be⸗ 
gleitet von einer bezaubernden Mu⸗ 
ſik der Gefuͤhle und geſchmuͤckt mit 
den bedeutendſten Bluͤthen des liebli⸗ 
chen Lebens. 


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PT Schlegel, Friedrich von 
2503 Lucinde 

S6L7 

1907 


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